Alternativen
zu den Verschuldungs- und Verarmungsmechanismen der kapitalistischen
Weltwirtschaft als Glaubensfrage -
der
Durchbruch von Harare
von
Ulrich Duchrow
Fast
unbemerkt von der Öffentlichkeit, die von den Medien auf
Nebenkriegsschauplätze geführt wurde, ist auf der 8. Vollversammlung
des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Harare 1998 ein
Durchbruch erzielt worden, der dem Aufruf zum Konziliaren Prozeß für
Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bei der 6.
Vollversammlung in Vancouver durchaus vergleichbar ist. Damals bezog sich der
Durchbruch auf ein Doppeltes: erstens, daß die Kämpfe der Menschen
in diesen drei Bereichen zusammengehören; zweitens, daß es sich bei
diesen Fragen nicht um beliebige politische Fragen handelt, sondern daß
sich an der Stellung zu ihnen das Kirchesein der Kirche entscheidet. Damals
wurde bereits angedeutet, daß der Kern der Problematik in den
ökonomischen, politischen, kulturellen und ideologisch-theologischen
Dimensionen der kapitialistischen Weltwirtschaft zu suchen ist.
[1]
Diese Ansicht fand damals aber noch keine Mehrheit.
Angesichts
der dramatischen globalen Krise, die insbesondere in Mexiko, Südostasien,
Rußland und Brasilien ganze Volkswirtschaften und die soziale Lebenswelt
von mehreren Millarden Menschen zu zerstören begonnen hat und die immer
mehr die Züge einer Weltwirtschaftskrise der Kategorie von 1929 annimmt,
hat sich die nun die Vollversammlung dem Aufruf aus vielen Kirchen,
ökumensichen Gruppen und sozialen Bewegungen nicht verschließen
können, die Frage der Verschuldung und der globalisierten kapitalistischen
Wirtschaft mit höchster Priorität auf die Tagesordnung der
Gemeinschaft der Kirchen im Ökumenischen Rat zu setzen. Das ist ein
Durchbruch mit großer Tragweite.
Dabei
ist dankbar hervorzuheben, daß der Reformierte Weltbund mit seinen
Beschlüssen von Debrecen 1997, die Kirchen zu einem Prozeß des
Erkennens, Lernens und Bekennens gegen weltwirtschaftliche Unrechtsmechanismen
und Naturzerstörung (processus confessionis) einzuladen, eine Pionierrolle
spielte.
[2]
Er veranstaltete in Harare auch eines der “Padares” (Foren), in dem
seine Vertreter mit überzeugender theologischer Argumentation
erläuterten, wieso die Weltwirtschaftsfrage zu einer Frage des Glaubens
und des Kircheseins geworden ist. Seine Einladung an die Vollversammlung, die
Mitgliedskirchen des ÖRK aufzufordern, sich diesem Bekenntnisprozeß
anzuschließen, wurde von den Delegierten in die Beschlüsse
ausdrücklich aufgenommen.
[3]
Im
Blick auf die Basis der Kirchen ist zunächst nur ein relativ breites
Engagement in der Kampagne “Erlaßjahr 2000” zu beobachten,
die den Erlaß der nicht rückzahlbaren Schulden der ärmsten
Länder zum Inhalt hat, während weitergehende Fragen nur zaghaft
angegangen werden. Deshalb scheint es mir in dieser Situation wichtig,
einerseits diese Kampagne als Eingangstür zu nutzen, andererseits aber von
da aus den weiteren Raum und Zusammenhang der Gesamtproblematik zu
erschließen, biblisch zu begründen und in konkrete
Handlungsvollzüge umzusetzen.
I.
Kontext und Zusammenhang des biblischen Sabbat- und Jobeljahrs
Der
“Erlaßjahr-Aufruf” der Vollversammlung “zur Befreiung
der verarmten Völker aus dem Würgegriff der Schulden”
knüpft an die Tradition des Sabbat- und Erlaßjahrs in der
hebräischen Bibel und deren Aufnahme in den messianischen Schriften des
Zweiten Testaments an (2.). Dann fährt der Text fort: “Die
Erlaßjahrvision ist heute noch ebenso gültig wie vor
Jahrtausenden.” In diesem Satz sind eine Fülle von historischen,
hermeneutischen und praktischen Fragen verborgen, die in dem kurzen Aufruf
nicht entfaltet werden, aber zentral wichtig sind, soll er nicht nur
ChristInnen, Gemeinden und Kirchen, sondern auch politische und wirtschaftliche
Akteure überzeugen und konkrete Handlungsoptionen unter heutigen
Bedingungen entwickeln, die nicht ohne weiteres identisch sind mit denen des
altorientalischen und antiken Kontextes. Denn was waren die spezifischen
Mechanismen jener Zeiten, auf die die Sabbat- und Erlaßjahrregelungen
antworten? Für wen waren diese “gültig”? Inwiefern ist
unser Kontext vergleichbar mit dem der biblischen Traditionen? Wer sind die
Akteure, die heute gefragt sind, und was könnten ihre Strategien sein?
Die
klassischen Texte zum Sabbat- und Erlaßjahr in Leviticus/3.Mose 25
stammen aus der exilisch-nachexilischen sog. Priesterschrift. Sie verarbeiten
den katastrophalen Zusammenbruch der gesellschaftlich-politischen Ordnung der
Königszeit mit der Zerstörung Jerusalems und der Deportation der
judäischen Oberschichten nach Babylon 586 v. Chr. Sie sind verfaßt
unter der Frage: Wie kann verhindert werden, daß bei dem Neuaufbau eines
judäischen Gemeinwesens nach dem Exil die gleichen sozialen,
wirtschaftlichen und politischen Fehlentwicklungen einsetzen und sich
verfestigen, die zu der Katastrophe geführt haben? Man muß also die
Struktur der früheren Fehlentwicklungen kennen, um den präzisen Sinn
der Sabbat- und Erlaßjahrregelungen zu erfassen.
Interessanterweise
taucht eine Siebenerregelung - die erst exilisch-nachexilisch den Namen Sabbat
erhält - in einem Text auf, der aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls
auf eine Katastrophe reagiert, im sogenannten
“Bundesbuch”
(Exodus/2. Mose 21-23)
.[4]
Hier war die Zerstörung des Nordreichs durch die Assyrer (722 v. Chr.)
vorausgegangen. Propheten wie Amos und Hosea hatten diesen Zusammenbruch als
Ergebnis sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit im Nordreich warnend und
zur Umkehr aufrufend angekündigt. Nun kamen die Prophetenschüler mit
den Flüchtlingen aus dem Norden und verstärkten die Stimmen der
Südpropheten wie Jesaja und Micha mit der Botschaft: Wenn ihr nicht zur
Gerechtigkeit umkehrt, werdet ihr genauso ins Verderben laufen wie das Nordreich.
Wahrscheinlich
in dieser Situation führt das Bundesbuch mehrere Siebenerregelungen und
einige weitere sozialrechtliche Wirtschaftsgesetze ein:
*
23,12: Am siebten Tag der Woche (noch nicht Sabbat genannt) soll der Bauer
ruhen und auch seinem Vieh, Sklaven und den Fremden bei ihm Ruhe geben, damit
sie “zu Atem kommen”.
*
21,2-11: Im siebten Jahr soll der Sklave ohne Lösesumme freigelassen werden.
*
23,10f.: Im siebten Jahr soll das Feld brachliegen, damit Arme und Tiere davon
essen können.
*
22,20-23: Fremde, Witwen und Waisen sollen nicht gewaltsam ausgenutzt werden
wie einst die hebräischen Sklaven in Ägypten, weil dann Gott ihr
Schreien hört (Exod 3,7ff.) und die Unterdrücker wie einst die
Ägypter vernichtet.
*
22,24-26: Wer leiht, soll weder Pfand noch Zins nehmen.
Von
Schuldenerlaß ist hier noch nicht die Rede. Das hat einen wichtigen
historischen Grund. Gerade die Zeit am Ende des 8. Jahrhunderts v.Chr. ist es,
in der ein tiefer wirtschaftsgeschichtlicher Umbruch erfolgt. Bis zum 8. Jh.
war der Alte Orient und auch der östliche Mittelmeerraum von
aristokratisch-monarchischen Herrschaftssystemen geprägt. Hier war es die
Form der direkten Gewalt, mit der Großgrundbesitz an Land, die
Arbeitskraft der Sklaven, Rohstoffe und Handelsgüter sowie Tribut von
unterworfenen Völkern angeeignet wurden. Ab dem 8. Jahrhundert häufen
sich aber die Belege dafür, daß unter den freien Kleinbauern selbst
ein Schuldenmechanismus entsteht, der zunehmend die Gesellschaft in sich
Bereichernde einerseits und Verarmende andererseits spaltet. Jes 5,8 ist
dafür einer der frühen Belege: “Weh euch, die ihr Haus an Haus
reiht und Feld an Feld fügt, bis kein Platz mehr da ist und ihr allein im
Land ansässig seid.” Ausführlich hat R. Keßler das
Phänomen und die präzisen Anklagen der Propheten dagegen für die
späte Königszeit in Judah (2. Hälfte des 7. Jahrhunderts)
beschrieben.
[5]
Was steckt dahinter?
Im
8. Jahrhundert
bildet sich
in
Griechenland eine neue Form der Eigentumswirtschaft
heraus.
[6]
Gegen die aristokratische Ordnung wird das private Eigentum unter absoluten
Rechtsschutz gestellt. Die freien Eigentümer bilden die neue
Gemeinschaftsform der Polis. Auf der Basis dieses Eigentumswerts entwickelt
sich eine neue Kreditwirtschaft mit strengen Verpfändungs- und Zinsregeln.
Kann der Kredit nicht zurückgezahlt werden, fällt das Pfand - in den
meisten Fällen nun das eigene Land - an den Gläubiger. Darauf bezieht
sich der Jesajatext. Die frühe Form des Zinses ist die Schuldsklaverei,
d.h. der Zins muß beim Gläubiger abgearbeitet werden. Zunehmend baut
diese Kreditwirtschaft die Geldwirtschaft aus, d.h. die Kreditbeziehungen
werden zunehmend mit Geld abgewickelt. Sobald dieses dem Schuldner fehlt,
setzen die Verpfändung des Landes und die Versklavung der
Schuldnerfamilien ein (vgl. Nehemia 5,1-5). Wenn man bedenkt, daß die
kleinbäuerlich produzierenden Familien neben ihrer Selbstversorgung von
ihrem Mehrwert bereits für den Luxus der aristokratisch-monarchischen
Herrschaftsschicht sowie für den Tribut der Großmächte
aufkommen mußten, so kann man verstehen, welche sozial und wirtschaftlich
zerstörende Kraft es haben mußte, wenn nun auch noch die eigenen
Leute über die Mechanismen des privaten Eigentums, Kredits und Zinses die
in Not geratenen Familien weiter in den Hunger, die Verpfändung der
Produktionsmittel und die Versklavung treiben. Dagegen treten die Propheten
auf, und dagegen entwickelt Israel Gesetze, die einerseits den
Verschuldungsmechanismus verhindern sollen (wie Pfand- und Zinsverbot),
andererseits, wenn er denn zu Versklavung geführt hat, die periodische
Befreiung dieser Schuldsklaven.
[7]
Ein
weiteres Mittel neben der Sklavenbefreiung (vgl. auch Jer. 34,8ff.) wird dann
im 7. Jh. der “Schuldenerlaß”, der ebenfalls im siebten Jahr
stattfinden soll. Zum ersten Mal spricht davon das
Deuteronomium,
Kap.15,1ff.
,
(wobei es nicht wichtig ist, ob nun dieser Text schon direkt aus der
Josianischen Reform von 622 v.Chr. stammt oder später zu datieren ist).
Was bedeutet er? Der hier benutzte hebräische Begriff ist schmittah, der
Verzicht.
[8]
Verzichten soll der Gläubiger - wie bei der Brache des Landes auf den
Jahresertrag des siebten Jahres - nicht nur auf seine Schuldforderung, sondern
auf das verpfändete Eigentum des Schuldners, normalerweise das Land (samt
Haus), also das Produktionsmittel der Kleinbauern. So wird nach sieben Jahren
nicht nur die mögliche Folge der Verschuldung aufgehoben - die
Schuldversklavung der Familie -, sondern auch die Ursache selbst - die
Verschuldung und die damit verbundene Verpfändung der eigenen
Produktionsmittel - wird beseitigt. So ist ein Neuanfang in Freiheit
möglich.
[9]
Das ergänzt übrigens das Deuteronomium (15,12ff.) noch dadurch,
daß dem freigelassenen Sklaven von seinem “Herrn” ein
Startkapital für den Neuanfang als freier Kleinbauer mit auf den Weg
gegeben werden soll.
Beides
ist ohne Parallele im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike.
Denn damit wird in Israel sowohl die Absolutheit des Eigentums wie auch die
Verwandlung eines versklavten Menschen (jedenfalls des eigenen Volksgenossen)
in absolutes Eigentum verworfen. Das Deuteronomium ist übrigens der
Meinung, daß - wenn das Volk Gottes gute Gesetze der Gerechtigkeit und
der Barmherzigkeit halten würde - kein Bedürftiger, kein Armer unter
ihnen leben würde (Deut 15,4ff.).
Auf
diesem Hintergrund ist es nun möglich, den klassischen Text
Lev
25
zu verstehen und einzuordnen. Er faßt - wie gesagt - die von der
Priesterschrift im sog Heiligkeitsgesetz für den nachexilischen Neuanfang
in Judäa kodifizierten sozio-ökonomischen Regelungen zusammen.
[10]
In seinem Zentrum steht der theologische Satz, ohne den alles andere
unverständlich ist. Er sagt, warum Israel eine grundsätzlich andere
ökonomische Ordnung haben muß als die umliegenden Völker. In
ihnen ist Recht vom König oder von Eigentümern gesetztes Recht. In
Israel wird Recht von außen her - vom Sinai her (Lev 25, 1) - von Gott
gesetzt. Es wird so der Macht der Könige und der Eigentümer im
Interesse der Egalität der Menschen und darum im Interesse der Armen und
Schwachen entzogen. Gott sagt (Lev 25, 23):
“Nicht
werde das Land unwiderruflich verkauft, denn mein ist das Land, denn Fremde und
Pächter seid ihr bei mir.” (Nach der Übersetzung von Martin
Buber)
Wer
sich also heute auf das Erlaßjahr beruft, muß bereit sein, die
Frage nach dem Eigentum zustellen. Die Gesetze von Lev 25 jedenfalls beruhen
auf der Ablehnung der von Griechenland herkommenden Absolutsetzung des
Eigentums (später im römischen Recht kodifiziert). Wer dem biblischen
Gott folgen will, muß Gott als den Eigentümer des Landes annehmen.
Es kann also nur Nutzungs- oder Pachtrechte auf Land (als das Produktionsmittel
in einer agrarischen Gesellschaft) geben. Daraus folgt dann alles weitere:
V.
2-7: Im siebten Jahr soll das Land einen “schabbath” feiern
dürfen (nunmehr ist das Wort Sabbat für die Siebenerrhythmen
eingeführt);
V.
8-13: Nach sieben mal sieben Jahren soll das “Jobel”, die Posaune,
geblasen werden und alle Familien wieder wie bei der ersten Landgabe ihr
Landlos zugeteilt bekommen, damit wieder alle egalitär wie in der
vorköniglichen Stammesgesellschaft sich selbst versorgen können;
V.
14-17: Der Kaufpreis für Land soll nicht dem Markt und damit der
Spekulation überlassen bleiben, sondern das 50. Jahr soll als
Berechnungsgrundlage dafür dienen, wie viele Ernten, die dann zu bezahlen
sind, ein Stück Land noch bringen wird;
V.
25-28: Wenn ein Bruder und seine Familie “tief unten”, d.h. in Not
sind und ihr Land/Haus verkaufen müssen, soll der nächste Verwandte
sie einlösen (die Ge’ulahordnung);
V.
35-38: Und wenn sie leihen müssen, sollen die Volksgenossen von ihnen
keinen Geldzins (neshek=Abbiß) oder zusätzliche Naturalabgaben
(marbith=Vermehrung) nehmen;
V.39-46:
Volksgenossen soll man überhaupt nicht zu Sklaven machen - auch hier die
Begründung: Gott ist ihr Eigentümer, er hat sie aus der Sklaverei in
Ägypten herausgeführt.
Es
soll nicht verschwiegen werden, daß die Priesterschrift die
deuteronomischen Sozialgesetze in Einzelheiten abschwächt.
Sklavenbefreiung und die Rückerstattung des durch Verpfändung
verlorenen Landes werden aus der Siebenjahresregelung herausgenommen und auf
das 50. Jahr verschoben. Daß im übrigen die Restitution der
Landverteilung im 50. Jahr historisch gesehen nur einmal in der
hebräischen Bibel an dieser Stelle auftaucht, erklärt sich am ehesten
daraus, daß mit der Rückkehr der Exulanten aus Babylon 50 Jahre nach
ihrer Deportation genau dieses Problem akut war: Wie soll die Verteilung des
Landes geregelt werden, nachdem die im Land gebliebenen landlosen Armen die
Ländereien der deportierten Oberschicht übernommen und bewirtschaftet
hatten? Sollen die Großgrundbesitzer ihr (einmal dem Volk durch Gewalt
oder Verschuldungsmechanismen geraubtes) Land nach der Regelung
“Rückgabe vor Entschädigung” (wie nach dem Fall der DDR)
zurückbekommen? Sollen sie nichts bekommen? Die Antwort gibt die
Jobeljahrregelung als Kompromiß unter Rückgriff auf die
vorkönigliche egalitäre Stammesgesellschaft: “Jede Familie soll
ihr Landstück zur Selbstversorgung erhalten”.
Später
greift der “dritte Jesaja” in Jes 61 die Erlaßjahrregelung
als eine Hoffnung der Zukunft auf (“Gnadenjahr des Herrn”). Daran
knüpft der Evangelist
Lukas
in Kap. 4,1ff. an, indem er sagt, daß in dem Messias Jesus diese Hoffnung
Wirklichkeit geworden ist. Die urchristliche Gemeinde stellt er in der
Apostelgeschichte so dar, daß sie in der Form der Gütergemeinschaft
die deuteronomische Tora erfüllt, denn in ihr gibt es keine
bedürftigen Armen (vgl. Apg 4,32-35).
Hervorzuheben
ist, daß die nachexilische judäische Gemeinschaft und auch Jesus
nicht nur proaktiv Gottes alternative Wirtschafts- und Sozialordnung leben,
sondern daß sie sich auch verweigern und Widerstand leisten, wenn die
hellenistisch-römischen Reiche und ihre Kollaborateure in den Provinzen
politisch-ökonomische Verhaltensweisen gegen Gottes Gesetz mit Gewalt
durchsetzen wollen. Die Geschichte vom Widerstand der drei Männer im
Feuerofen ist dafür ein Beispiel (Dan 3
[11]).
Jesus fordert nicht nur die klare Entscheidung zwischen Gott und Mammon,
sondern greift in direkter gewaltfreier Aktion das mit Rom kollaborierende
Wirtschaftszentrum in Judäa, den Tempel, an und ruft zum Boykott der
Währung des römischen Besatzungsmacht auf (vgl. Mark 11,15ff. und
12,13ff.).
[12]
Man
kann schon bei einem so kurzen, selektiven Überblick über biblische
Alternativansätze zu Verschuldungs- und Verarmungsmechanismen sehen,
daß der rote Faden - Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit - jeweils
entsprechend den konkreten sozio-ökonomischen Kontexten konkret zugespitzt
wird. Von daher gesehen erscheint es kühn, wenn in dem
Erlaßjahraufruf der Vollversammlung einfach behauptet wird, er gelte
(ganz allgemein) auch heute. Es bedarf sicher ausführlicherer
hermeneutischer Überlegungen, um die Stoßrichtung der biblischen
Aussagen für die Lösung unserer heutigen Probleme fruchtbar zu machen.
[13]
2.
Alternativen zu den Verschuldungs-und Verarmungsmechanismen heute
Unter
diesem Aspekt ist es zu begrüßen, daß die Vollversammlung den
Erlaßjahraufruf nicht auf die Schuldenstreichung für die
ärmsten Länder beschränkt, sondern ihn mit einer kritischen
Analyse der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Mechanismen und der
Forderung einer umfassenden Reform des gegenwärtigen
Weltwirtschaftssystems verbindet. Darum muß er auch zusammengenommen
werden mit den Beschlüssen und Hintergrundspapieren zur Globalisierung.
[14]
Nur darin findet sich auch der legitime
hermeneutische
Ansatzpunkt
für die Umsetzung der biblischen Traditionen in die heutige Situation:
die
Kirchen selbst
.
Der Erlaßjahraufruf richtet sich sofort direkt (und indirekt durch die
Mitgliedskirchen) nach außen an die politischen Entscheidungsträger.
Die biblischen Texte dagegen richten sich außer an das Volk Israel
zunächst an die Jünger und Jüngerinnen Jesu und an die aus
dieser Jüngergemeinschaft erwachsende Kirche (in ihren verschiedenen
Sozialgestalten). Das deutet der Globalisierungsbeschluß unter 6. im
Unterschied zum Erlaßjahraufruf an, wenn es dort heißt:
“...Überprüfung
des Umgangs der Kirchen mit Land, Arbeitskräften, Arbeitslosigkeit und
Kapital, zum Beispiel im Hinblick auf die ethisch vertretbare Geldanlage von
Pensionsfonds und anderer finanzieller Mittel, die Nutzung von
landwirtschaftlichen Nutzflächen usw.”
In
welchem Kontext befinden sich die Kirchen - insbesondere die europäischen
Kirchen -, wenn sie ihr eigenes Wirtschaften im Blick auf Land, Arbeit und
Kapital überprüfen wollen?
[15]
Ihr Kontext ist mit dem Judäas nach dem 8.Jh. v. Chr. insofern
vergleichbar, als die
europäische Neuzeit
seit dem späten 14. Jahrhundert n.Chr. von der griechisch-römischen
Antike die Absolutheit des privaten Eigentums und darauf aufbauender Zins- und
Geldwirtschaft übernommen hat. Allerdings sind zwei grundsätzliche
Weiterentwicklungen und Unterschiede zu nennen, will man bei der Beziehung
biblischer Texte auf unsere Situation nicht in Kurzschlüsse verfallen. Zum
einen wurde in einem Prozeß bis ins 19.Jahrhundert hinein Sklavenarbeit
durch Lohnarbeit ersetzt. Zum anderen wurde mithilfe dieser Lohnarbeit die
kapitalistische Produktionsweise entwickelt, in der neben der Übernahme
der Zirkulations- und Wertaufbewahrungsfunktionen des Geldes dessen
Akkumulationfunktion erweitert wird. D. h. es wird nicht nur mit den
beschränkten Ressourcen von Land und Sklavenarbeit mehr Geld
erwirtschaftet und dann in die Zirkulation oder die Schatzaufbewahrung gegeben
wie im hellenistisch-römischen System. Vielmehr wird der durch die private
Verfügung über die Produktionsmittel erwirtschaftete Gewinn zur
Steigerung der Produktivkräfte und erneutem Gewinn reinvestiert - wobei
dies genau die Bedeutung von Kapital im Unterschied zu Geld ist. Im Unterschied
zur Antike entsteht so eine Wachstumswirtschaft.
Von
daher kann man nicht einfach das
Zinsverbot
der Bibel als Mittel gegen heutige Verschuldungs- und Verarmungsmechanismen
übernehmen. Denn - wenn man überhaupt im Rahmen der kapitalistischen
Wachstumswirtschaft bleibt, in der die Eigentümer an den
Produktionsmitteln den durch Arbeit erwirtschafteten Mehrwert abschöpfen
können - so ist der Zins hier Anteil an dem aus dem Wachstum entstehenden
Mehrwert.
[16]
Freilich ist es für die Kirchen durchaus eine notwendige Frage, ob sie ihr
anzulegendes Geld unter den heutigen Bedingungen einfach in den normalen
Geldkreislauf der Geschäftsbanken geben dürfen, wenn sie nach
biblischen Kriterien und damit theologisch begründet und glaubwürdig
leben wollen. Was in biblischen Zeiten das Zinsverbot war, muß heute
analogerweise eine Orientierung des Zinses am real erwirtschafteten Gewinn
sein. Nun sind zwar in den national regulierten Geldmärkten die Zinsen
z.Zt. relativ niedrig, die großen Geschäftsbanken gehen aber mit
ihren riesigen Kapitalmengen auf die transnationalen deregulierten
Geldmärkte. Hier werden nicht nur gerade von überschuldeten
Ländern des Südens und Ostens bei kurzfristigen
Umschuldungsgeschäften überhöhte Zinssätze genommen,
sondern die Banken nutzen die Zinsdifferenzen auch zu enormen
Zinsspekulationsgeschäften - wobei hier die Währungs- und
Derivatenspekulationen noch nicht einmal berücksichtigt sind.
- Bei
aller Komplexität der Zinsfrage folgt daraus für biblisch orientierte
Kirchen:
Abzug
ihrer Anlagegelder aus den großen Geschäftsbanken
entweder
in lokale Kreditgenossenschaften oder alternative Banken, die sowohl ein
sozial- und ökologisch orientiertes Investitionsziel wie auch eine am
Wirtschaftsergebnis orientierte Zinshöhe garantieren.
Eine
weitere zentrale Frage ist die des
Eigentums
an Produktionsmitteln
.
Biblisch gesehen ist Eigentum an Produktionsmitteln (Land) als relatives
Nutzungsrecht zur Ermöglichung der Selbstversorgung der Familien zu
verstehen. Unbeschränktes Verfügungsrecht über das Eigentum an
Produktionsmitteln führt notwendigerweise zur Enteignung schwächerer
Wirtschaftsteilnehmender und zur Reichtumskonzentration in immer weniger
Händen. Nach dem Zusammenbruch des klassisch liberalen Kapitalismus in der
Weltwirtschaftskrise 1929 und den zwei Weltkriegen und dem Erstarken der
Arbeiterbewegung wurde deshalb in Europa das eingeführt, was man nach der
deutschen Verfassung (GG14) die Sozialpflichtigkeit des Eigentums nennt. Diese
führte einerseits zu Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmenden in den
Betriebsverfassungen, andererseits zu Systemen progressiver Besteuerung. D. h.
je höher das Einkommen, desto höher die Besteuerung. Diese
progressive Besteuerung der Gewinne aus Unternehmertätigkeit und
Vermögen ist in der neoliberalen Phase seit den siebziger Jahren zunehmend
ausgehöhlt worden. Die Last der Steuer wurde zunehmend auf die
abhängige Arbeit geladen (in Deutschland seit 1980 + 73 %), während
die Gewinne ständig weniger besteuert wurden (-9%). Hinzukommt die
über die transnationalisierten Märkte immer leichter zu vollziehende
Steuerflucht. Beide Mechanismen haben zu Folge, daß inzwischen nicht nur
die verarmten Länder des Südens und des Ostens überschuldete
Staatshaushalte haben, sondern daß auch die reichen Industrieländer
Europas (mit Ausnahme von Steuerfluchtländern wie Schweiz und Luxemburg)
unter immer höher verschuldeten öffentlichen Haushalten leiden, was
deren Regierungen wieder zum Anlaß nehmen, nicht nur in der
“Entwicklungshilfe”, sondern bei den Ausgaben für die eigenen
sozial Schwachen, für Beschäftigungs-, Kultur- und Gesundheitspolitik
zu sparen.
- Bei
aller Komplexität der Eigentumsfrage können biblisch orientierte
Kirchen bereits heute an einer Stelle eine klare Entscheidung treffen: Wenn die
in einem kapitalistischen System ohnehin beschränkten Möglichkeiten,
unbegrenzte Reichtumsakkumulation und zunehmende Verarmung zu verhindern - das
progressive Steuersystem - von den Kapitaleigentümern und ihren Agenten,
den Großbanken, systematisch unterlaufen wird (was in Deutschland durch
die Gerichtsprozesse gegen die Deutsche Bank, die Dresdener Bank und die
Commerzbank aktenkundig ist), so bleibt für die Kirchen nur eine
Konsequenz, nämlich
die
Kooperation mit den Geschäftsbanken abzubrechen, die professionelle Hilfe
zur Steuerhinterziehung leisten
.
Und das tun praktisch alle. D.h. es bleiben im wesentlichen auf lokal-regionale
Geschäfte beschränkte Sparkassen usw. sowie alternative Banken.
Ein
weiterer Bereich alternativen wirtschaftlichen Handelns im Sinn der Bibel liegt
für die Kirchen in einem gerechteren Teilens von
Arbeit
und Einkommen
.
Die transnationalen Konzerne nutzen ihre weltweite Mobilität, um die
örtlich gebundenen Arbeitenden gegeneinander auszuspielen, um
Erwerbslosigkeit zu produzieren, statt die Produktivitätsgewinne in
verkürzte Arbeitszeit umzusetzen, um so wiederum Druck auf die Löhne
und Arbeitsbedingungen ausüben zu können. Wenn nun die Kirchen bei
abnehmenden Finanzen (die sie ihrerseits einfach hinnehmen, statt mit anderen
Betroffenen zu fragen, wo denn das viele Geld bleibt, das um den Globus
schwappt) sich ähnlich wie Konzerne verhalten und Stellen streichen, statt
Arbeit und Einkommen neu zu verteilen, so haben sie schwerlich die
Glaubwürdigkeit, nach außen ein gerechteres Wirtschaften zu fordern.
- Kirchen
müssen deshalb
Modelle
eines gerechteren Teilens von Arbeit und Einkommen
einüben.
Dies
sind nur einige Beispiele zu dem wichtigen Hararebeschluß, der die
Kirchen auffordert, nicht nur nach außen für mehr wirtschaftliche
Gerechtigkeit aktiv zu werden, sondern ihr eigenes Handeln kritisch zu
überprüfen und biblisch zu erneuern. Dies hat hermeneutisch gesehen,
zwei wichtige Bedeutungen: Erstens sehen die biblischen Schriften im
beispielhaften Handeln des Volkes Gottes dessen
missionarischen
Auftrag
(vgl. Jes 2,1ff. und Matth 5, 13ff.). Zweitens kann eine Kirche nicht
glaubwürdig nach außen hin prophetisch und solidarisch aktiv werden,
ohne selbst wenigstens zeichenhaft selbst zu tun, was sie fordert. Dann aber
soll und kann sie es mit großer Eindeutigkeit und Klarheit tun.
Auch
hierzu geben die Hararebeschlüsse gute Hinweise. Sie weisen nämlich
darauf hin, daß
das
prophetische Handeln der Kirche
gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Mächten nicht einfach
in nachkonstatinischer Selbstverständlichkeit aus privilegierter Stellung
heraus erfolgen kann. Vielmehr ruht es auf der Identifikation mit den Opfern
und erfolgt deshalb in Bündnissen mit diesen und anderen solidarischen
Kräften innerhalb der zivilen Gesellschaft (III,6). Im einzelnen werden
dann u.a. folgende Forderungen aufgestellt, die in dieser Weise von ChristInnen
und Kirchen zu unterstützen sind:
- Schuldenerlaß
für die ärmsten Länder und -reduzierung für die mit
mittlerem Einkommen;
- Einführung
eines internationalen Insolvenzrechts- und Schlichtungsverfahrens;
- Beteiligung
der Zivilgesellschaft an der Verwaltung der Gegenwertfonds;
- Rückführung
von Fluchtkapital auf Nummernkonten (Bankgeheimnis!);
- “Zusammenarbeit
mit Initiativen für ein neues Finanzsystem einschließlich einer
Steuer auf finanzielle Transaktionen (Tobin-Steuer)...und Beschränkung des
deregulierten Kapitalflusses”;
- “Befähigung
und Unterstützung von örtlichen Alternativen durch neue
Produk-tionsformen, fairen Handel und alternative Banksysteme und, speziell in
hochindustrialisierten Ländern, Veränderungen in Lebensstil und im
Konsumverhalten”; und umfassend wird dazu aufgefordert,
- “sich
im Zusammenwirken mit der Zivilgesellschaft an einer globalen Wirtschaftsreform
zu beteiligen, um die Bedingungen für eine gerechte Verteilung des
Reichtums zu schaffen und neue Schuldenkrisen zu verhindern;”
Realistisch
sieht die Vollversammlung, daß die Basis der Kirchen schlecht darauf
vorbereitet ist, diesen Herausforderungen im Blick auf die eigene
missionarische Gestalt und das eigene prophetische Handeln zu begegnen. Ich
persönlich bin der Meinung, daß dies unsere Kirchen in Europa
ausdrücklich als
Schuld
bekennen
müßten.
Die Probleme, um die es hier geht, sind mindestens bereits 30 Jahre sichtbar,
wie ein kurzer Rückblick in die Geschichte der ökumenischen Bewegung
zeigen würde. Diese Aufarbeitung der Vergangenheit müßte auch
die Frage nach der Verdrängung 500 Jahre europäischer imperialer und
kolonialer Eroberungs- und Gewaltgeschichte gegenüber dem Rest der Welt
einbeziehen. Denn bis jetzt haben die europäischen Kirchen ihre Mitschuld
daran nicht bekannt. Im Licht dieser Geschichte stellt sich auch die Frage der
Schulden ganz neu. Denn nach Exod 22,24-26 soll der Gläubiger nicht nur
die Schulden erlassen, sondern das genommene Pfand zurückgeben.
[17]
So stellt sich für Europa in doppelter Weise die Frage der
Wiedergutmachung an die Länder der “Dritten Welt”.
[18]
Ein
Anfang ist der Vorschlag der reformierten Kirchen in ihrem “processus
confessionis” und auch der Delegierten in Harare, eine
“wirtschaftliche
Alphabetisierung” einzuleiten die
“ökonomischen
Probleme als Glaubenssache” wahrzunehmen
.
Der
Ökumenische Rat selbst soll nach den Empfehlungen des Ausschusses für
Programmrichtlinien für die nächste Arbeitsperiode Verschuldung und
Globalisierung zu zwei seiner sechs thematischen Prioritäten machen. Damit
haben die Fragen der Weltwirtschaft endlich den Platz auf der ökumenischen
Agenda gefunden, die sie verdienen. Denn sie sind für die Mehrheit der
Weltbevölkerung Fragen von Leben und Tod.
Literaturverzeichnis
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der Schrift, Berlin
[1]
Vgl. U. Duchrow, (1986) 1997²
[2]
Vgl. Reformierter Weltbund, 1997
[3]
Bericht des Weisungsausschusses für Grundsatzfragen II (Doc.RC-II1, III,3)
[4]
Vgl. F. Crüsemann, 1992, 132ff. (bes. 179ff., 217ff. und S. 229:
“Katastrophenverarbeitung”)
[6]
Vgl. G. Heinsohn, 1984 und G. Heinsohn/O.Steiger, 1996
[7]
Eine Reaktion auf die verheerenden sozialen Folgen der neuen
Eigentumswirtschaft in Griechenland selbst sind die Solonischen Reformen 594
v.Chr. mit der Abschaffung der Schuldsklaverei - freilich bei gleichzeitiger
Staffelung der politischen Rechte nach der Größe des Eigentums
(Timokratie)
[8]
Vgl. zum Ganzen T. Veerkamp, 1993, 65ff.
[9]
Vgl. als praktisches Beispiel auf der Basis der Siebenjahresregel Neh. 5 und
10,32
[10]
Vgl. ebd., 86ff. und F. Crüsemann, 1992, 330ff.
[11]
Vgl. T. Veerkamp, 1993, 243ff.
[12]
Vgl. Ch. Myers, 1994
7,
297ff. und 310ff.
[13]
Einen umfassenderen Versuch zur Entfaltung einer europäischen Agenda im
Blick auf die im folgenden angeschnittenen Fragen bietet das Europäische
Kairos-Dokument, ein “Aufruf an die Glaubensgemeinschaften,
Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und andere interessierte Gruppen und
Personen zur Bündnisbildung für die Befreiung vom Diktat der
deregulierten globalisierten Wirtschaft und ihrer Konkurrenzkultur”, in:
Beilage zu Junge Kirche, H.6/7, Juni 1998
[14]
Vgl. Dok. RC-II1, III und Anhang II
[15]
Vgl. zum Ganzen U. Duchrow, 1997², Erster Teil
[16]
Vgl. T. Veerkamp, 1993, 28ff. ausführlich zu dieser historischen Differenz
[17]
Vgl. R. Krüger, 1997, S. 75ff.
[18]
Vgl. den Vorschlag von Kairos Europa an die 2. Europäische
Ökumenische Versammlung 1997, in Europa Kommissionen für Wahrheit und
Versöhnung einzurichten, in: U.Duchrow 1997, 91ff.