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OFFENER BRIEF AN DIE VON LINKSPARTEIEN GEFÜHRTEN REGIERUNGEN DER EUROPÄISCHEN UNION

FÜR EINE ALTERNATIVE STEUERPOLITIK IN EUROPA –

GEGEN ARBEITSLOSIGKEIT UND UMWELTZERSTÖRUNG

Die Wahlsiege von "New Labour" in Großbritannien und der "Parti Socialiste" in Frankreich scheinen eine Trendwende in der politischen Landschaft Europas zu signalisieren. Denn immer mehr Menschen nehmen wahr, daß die neoliberalen Konzepte der Konservativen entgegen den seit vielen Jahren gemachten Versprechungen nicht zu mehr Wohlstand und Lebensqualität beitragen. Statt dessen haben sie zu beispielloser Massenarbeitslosigkeit, ungeschützter Beschäftigung, Armut und sozialer Ausschließung sowie verstärktem ökologischen Raubbau geführt. Die öffentliche Reaktion auf das Scheitern der Doktrin von "Marktwirtschaft pur" hat die Linksparteien wieder an Boden gewinnen lassen. Diese Entwicklung weckt Hoffnungen auf eine Umkehr der Politik in Richtung einer sozial und ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsweise – sowohl im Blick auf die nationalen Kontexte wie auch auf der Ebene der Europäischen Union (EU).

Wir, die Unterzeichneten, begrüßen daher die ersten in diesem Sinne interpretierbaren Ansätze, etwa die Aufnahme eines neuen Titels zur Beschäftigung in den Vertrag von Amsterdam und die Verständigung auf eine Sondertagung des Europäischen Rates zum Problem der unakzeptabel hohen Arbeitslosigkeit. Jedoch befürchten wir, daß künftige Schritte – unabhängig davon, welche nationalen und/oder gemeinschaftsübergreifenden Strategien zur Beschäftigungsförderung und Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen ergriffen werden – zum Scheitern verurteilt sein werden, wenn nicht gleichermaßen die extrem schädliche Erosion der Steuersouveränität der Mitgliedstaaten der EU unterbunden wird.

Während die Konsolidierung der Staatsfinanzen zur Erfüllung der fiskalischen Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags vornehmlich über die Ausgabenseite betrieben wird, und die entsprechenden Kürzungen der öffentlichen Haushalte eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und den teilweisen Abbau des Sozialstaats nach sich ziehen, profitiert das Kapital zum gleichen Zeitpunkt von stetigen Steuervergünstigungen und Steuervermeidungsmöglichkeiten. Aufgrund umfassender Liberalisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen im Finanzsektor, die zu einer weitgehenden Abschaffung der Kapitalkontrollen innerhalb der EU geführt haben, sind auf den Finanzmärkten enorme Handlungsspielräume entstanden. Diese ermöglichen es kapitalkräftigen Akteuren, ihre finanziellen Mittel als wirksame Instrumente einzusetzen, um die Politik zum Treffen von Entscheidungen zugunsten ihrer eigenen Interessen zu bewegen. Da dieser Druck seitens der internationalen Finanzmärkte allerorts ausgeübt wird, werden auch die um mobiles Kapital konkurrierenden Regierungen der EU in zunehmendem Maße gegeneinander ausgespielt. Infolge des hierdurch ausgelösten Steuersenkungswettlaufs sinkt nicht nur das Steueraufkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen in beträchtlichem Maße; vielmehr nehmen auch die Möglichkeiten für Steuerumgehung und Steuerflucht immer mehr zu. Die Bestrebungen zur Verringerung der hohen Budgetdefizite erfahren angesichts dieser staatlichen Einnahmeausfälle einen empfindlichen Rückschlag. Auf der anderen Seite wird der Faktor Arbeit mit immer höheren Steuern und sonstigen Abgaben belastet, wodurch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weiter gemindert und somit wiederum zusätzliche Arbeitsplätze gefährdet werden.

Diese Entwicklung nahm der Wirtschafts- und Sozialausschuß der EU, der sich paritätisch aus Repräsentanten von Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammensetzt, auf seiner Sitzung vom 9. Juli 1997 zum Anlaß, sich mit großer Mehrheit gegen den "destruktiven Steuerwettbewerb" in der Fünfzehnergemeinschaft auszusprechen. Steuerdumping, so der Ausschuß, sei mit dafür verantwortlich, daß – einer Studie der Europäischen Kommission zufolge – die steuerliche Belastung der Arbeit im EU-Durchschnitt zwischen 1980 und 1994 von 34,7 auf 40,5 % gestiegen, während sie im Blick auf Kapital, selbständige Arbeit, Energie und natürliche Ressourcen im selben Zeitraum von 44,1 auf 35,2 % zurückgegangen ist.

Einige EU-Staaten treiben diese Verzerrung der Faktorbesteuerung durch die Einrichtung neuer Steueroasen mit Sonderkonditionen für ausländische Kapitalanleger (mit effektiven Steuersätzen, die teilweise unter 1 % liegen!) noch zusätzlich voran. Wie verschiedene Schätzungen nahelegen, belaufen sich die EU-weiten Steuerausfälle als Folge von Steuervermeidung und -hinterziehung auf jährliche Größenordnungen von mindestens 100 Milliarden ECU. Vor diesem Hintergrund warnt der Wirtschafts- und Sozialausschuß mit Recht davor, daß internes Steuerdumping zu einem Sprengsatz für die gesamte EU werden könne.

Da die EU und die Regierungen der Mitgliedstaaten dringend zusätzlicher Mittel für die Bekämpfung der dramatisch zunehmenden Arbeitslosigkeit und der fortlaufenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen bedürfen, erachten wir es als unerläßlich, daß der oben beschriebenen, für Menschen wie Umwelt gleichsam verheerenden Politik ein Ende gemacht wird. Aus diesem Grund appellieren wir an Sie, Ihrer politischen Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der EU gerecht zu werden und sich gemeinsam für eine EU-Steuergesetzgebung einzusetzen, die

( eine angemessene Quellensteuer auf alle Zinseinkommen bei gleicher Höhe in allen Mitgliedstaaten erhebt;

( einen gemeinschaftsweiten Mindeststeuersatz für sonstige Kapitalerträge und die Körperschaftsteuer beinhaltet;

( die Lohnsteuersätze für die unteren und mittleren Einkommensstufen reduziert;

( die Steuersätze auf den Verbrauch von Energie und natürlichen Ressourcen EU-weit harmonisiert und erhöht;

( eine Devisenumsatzsteuer zur Begrenzung spekulativer Transaktionen (wie vom Nobelpreisträger James Tobin vorgeschlagen) einführt.

Angesichts der monetaristischen Orientierung des bevorstehenden Stabilitätspaktes und des deshalb drohenden Diktats der leeren Kassen sind wir zutiefst überzeugt, daß ein dringender und unmittelbarer Handlungsbedarf im Sinne der von uns vorgeschlagenen Regulierungen exisitiert. Andernfalls dürfte Ihnen die finanzielle Manövriermasse fehlen, um Ihre Wahlversprechungen zu erfüllen. Und eine auch nur annähernde Fortschreibung der einseitig zu Lasten des sozialen Zusammenhalts gehenden Austeritätspolitik der konservativen Parteien könnte die enttäuschte Wählerschaft in die Arme der ultrarechten Populisten treiben – wie es schon einmal in diesem Jahrhundert geschah.

Auch die Gruppe der 7 hat auf ihrem Gipfeltreffen in Lyon im Juni letzten Jahres eingeräumt, daß "Steuersysteme, die darauf ausgerichtet sind, finanzielle sowie andere geographisch mobile Aktivitäten anzulocken, eine schädliche Steuerkonkurrenz zwischen verschiedenen Staaten verursachen und zudem Handels- und Investitionsströme fehlleiten können, was zur Aushöhlung nationaler Besteuerungsgrundlagen führen könnte". Deshalb fordern wir Sie zudem auf, Ihre zukünftigen Initiativen über den Rahmen der EU hinaus zu erweitern, um sicherzustellen, daß die sich selbst verstärkende Abwärtsspirale des internationalen Steuerwettbewerbs durch Kooperation auch auf der globalen Ebene bekämpft wird.

Die Unterzeichneten:

cc: Sozialdemokratische, sozialistische und grüne Oppositionsparteien in Deutschland, Irland und Spanien

UnterzeichnerInnen des "Offenen Briefs" sind unter anderem:

Aktion Finanzplatz Schweiz, Prof. Dr. Ulrich Albrecht (Freie Universität Berlin), Prof. Dr. Wilfried Altzinger (Wirtschaftsuniversität Wien), Prof. Dr. Samir Amin (Forum Mondial des Alternatives), Dr. Maria Berger (MdEP), Evelyn Blau (Gewerkschaft der Privatangestellten/Österreich), Marie Christine Blandin (Präsidentin des Rates der Region Pas-de-Calais/Frankreich), Prof. Dr. Herwig Büchele (Universität Innsbruck), Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland/BUND, Christian Council for Monetary Justice (Großbritannien), Ken Coates (MdEP), Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori (Italien), Prof. Dr. Johannes Dantine (Oberkirchenrat/Evang. Kirche in Österreich), Dr. Hans Diefenbacher (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft), Prof. Dr. Edward Dommen (Universität Sunderland), Prof. Dr. Ulrich Duchrow (Universität Heidelberg), Rainer Falk (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung e.V./WEED), Dr. Dr. Heino Falcke (Propst i.R./Erfurt), Fédération Romande des Socialistes Chrétiens (Schweiz), FIAN Österreich, Dr. Ulrich Fischer (Dekan/Evang. Landeskirche Baden), Forum Civique Européen (Frankreich), Forum du Tiers Monde, Dr. Pierre Galand (Oxfam Belgien), Christian Gehlsen (MdL), Prof. Dr. Roland Geitmann (Christen für eine gerechte Wirtschaftsordnung), Michael Geuenich (Mitglied des Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes), Prof. Dr. Bob Goudzwaard (Freie Universität Amsterdam), Prof. Dr. Jacques Gouverneur (Universität Louvain-la-Neuve), Griechisches Netzwerk der Arbeitslosen, Prof. Dr. Peter Heintel (Universität Klagenfurt), Prof. Dr. Rudolf Hickel (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik), Colin Hines (International Forum on Globalisation/Großbritannien), Olivier Hoedeman (Coalition for a Different Europe/Niederlande), Reiner Hoffmann (Direktor des Europäischen Gewerkschaftsinstituts), IDOC (Italien), Initiative für eine sozialistische Politik der SPÖ, Irish National Organisation of the Unemployed (Irland), Dr. Willibald Jacob (MdB), Dr. Peter Jankowitsch (stellvertr. Vorsitzender des Wirtschaftskomitees der Sozialistischen Internationale), Kairos Europa, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt der Evang. Kirche in Deutschland, Claus Koch (Publizist/Berlin), Prof. Dr. Mohssen Massarat (Universität Osnabrück), Johann Maier (Abgeordneter des Nationalrats/Österreich), Prof. Dr. Klaus Michael Meyer-Abich (Universität Essen), Jakob Moneta (Journalist/Frankfurt/M.), Kerstin Müller (MdB), Prof. Dr. Hans G. Nutzinger (Gesamthochschule Kassel), Ökumenisches Forum der Europäischen Katholiken, Österreichischer Gewerkschaftsbund (Landesexekutive Oberösterreich), Österreichischer Informationsdienst für Entwicklungspolitik/ÖIE, Dr. Helmut Ornauer (Direktor der Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz), Prof. Dr. Lode van Outrive (Katholische Universität Leuven), Prof. Dr. Norman Paech (Universität Hamburg), Brigitte Parnigoni (Geschäftsführerin/Friends of the Earth Österreich), Parti Socialiste Genevois (Schweiz), Pax Christi (Dänemark), Prof. Dr. Riccardo Petrella (Group of Lisbon), Quaker Council for European Affairs, Prof. Dr. Kunibert Raffer (Universität Wien), Dr. Helmut Schauer (Mitglied des Vorstands der IG Metall), Scheme Workers Alliance (Irland), Dr. Stephan Schulmeister (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung/WIFO), René de Schutter (Groupe de Recherche pour une Stratégie Economique Alternative/Belgien), Schwedisches Netzwerk der Arbeitslosen, Dr. Franz Segbers (Evangelische Sozialakademie Friedewald), Christian Sterzing (MdB), Dr. Walter Sturm (Arbeiterkammer Oberösterreich), Society of Friends (Schweden), Jorgen Thomsen (DanChurch Aid/Dänemark), Prof. Dr. Brigitte Unger (Wirtschaftsuniversität Wien), Prof. Dr. Erwin Weissel (Universität Wien), Frieder O. Wolf (MdEP), Prof. Dr. Karl Georg Zinn (Technische Hochschule Aachen) ...