“Die Bedeutung der Friedenskirchen für die Kirche Jesu Christi in der heutigen Situation”

 

In der ersten Ausgabe unserer Reihe “Theologie und Frieden“ (Jahrgang 1, Heft 1) haben wir über den Verlauf des Symposiums anläßlich des 50jährigen Bestehens der Church and Peace Bewegung Ende Mai 1999 berichtet.

Ganz im Vordergrund standen dabei die Begegnung mit Christen aus dem Kriegsgebiet in Belgrad und die Frage, wie wir als Christen und Mitglieder aus Friedenskirchen auf den erneuten Krieg im früheren Jugoslawien reagieren sollten.

Diese Fragestellung zog sich auch durch den Eröffnungsvortrag von Professor Dr. Wolfgang Lienemann zu Beginn des Symposiums am Freitagabend (28. Mai 1999) zum Thema:

Die Bedeutung der Friedenskirchen für den Leib Christi in der heutigen Situation

Das Ziel dieses Vortrages bestand darin, eine Standortklärung zur Rolle und Aufgabe der Friedenskirchen angesichts der gegenwärtigen Erfahrungen von Krieg und Verfolgung von Minderheiten nicht nur in Europa vorzunehmen. Wieweit finden Volkskirchen und Friedenskirchen gemeinsame Antworten auf die aktuellen friedensethischen Herausforderungen? Worin liegt das Proprium des friedenskirchlichen Weges, der mit einem biblisch begründeten Gewaltverzicht und gleichzeitiger aktiver Konfliktlösung verbunden bleibt?

Professor Lienemann geht dieser Frage im seinem Beitrag vor allem im Zusammenhang der Notwendigkeit des Minderheitenschutzes und der Achtung und Bewahrung internationaler völkerrechtlicher Standards nach.

Mit der Veröffentlichung dieses Beitrages möchten wir die lebhafte Diskussion, die Professor Lienemanns Vortrag zu Beginn des Symposiums ausgelöst hat, fortsetzen und einen größeren Kreis von Leserinnen und Lesern daran teilnehmen lassen.

Christian Hohmann, Generalsekretär

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Die Bedeutung der Friedenskirchen für den Leib Jesu Christi in der heutigen Situation*

Wolfgang Lienemann

* Vortrag (überarbeitet und um Nachweise ergänzt) beim Symposium anlässlich des Jubiläums von "Church and Peace", 28.-30. Mai 1999 auf dem Bienenberg bei Basel. "Church and Peace" ist ein europäisches ökumenisches Netz von Friedenskirchen, Friedensgemeinden, Friedenskommunitäten und Friedensdiensten.

Gliederung

Vorbemerkungen

1. Herausforderungen der heutigen Situation

1.1 Wo sind die Friedensstifter?

1.2 Menschenrechtsschutz und militärische Zwangsmittel

1.3 Die Kirchen und der Frieden

2. Christusnachfolge und Gewaltfreiheit im politischen Gemeinwesen

2.1 Freikirchliche Existenz in der Christusnachfolge

2.2 Stellvertretung und Solidarität

2.3 Gewaltfreiheit für andere

3. Staatlichkeit, Menschenrechte und Völkerrecht - eine alte und zugleich neue Frage an die Friedenskirchen

4. Rechtsordnung und Gewaltprävention

4.1 Frieden muss "gestiftet" werden

4.2 Konsequenzen

4.3 Unerlässliche Dimensionen des Friedenstiftens

5. Ausblick: Wahrheit und Versöhnung

 

Vorbemerkungen

"(12) Denn gleichwie ein Leib ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder aber des Leibes, wiewohl ihrer viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. (13) Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leibe getauft, wir seien Juden oder Griechen, Unfreie oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt. [...] (26) Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit. (27) Ihr aber seid der Leib Christi und Glieder, ein jeglicher nach seinem Teil."

Diesen Zeilen aus dem 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes stelle ich eine säkulare Parallele zur Seite:

"Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als des Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf."

Diese These findet sich in Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" von 1795 (BA 45). Beide Zitate beziehen sich auf Kommunikationsgemeinschaften. Beide gehen von der Einheit von Teilen und einem Ganzen aus. Beide kommen darin überein, dass die Verletzung eines Teiles das Ganze der jeweiligen Gemeinschaft betrifft und bedroht. Der paulinischen Vorstellung von der Glücks- und Leidensgemeinschaft von Leib und Gliedern ist die Kantische Vorstellung von der allgemeinen Infragestellung des Völkerrechts durch eine einzelne Rechtsverletzung nachgebildet. Menschen, die in einem umgreifenden leibhaftigen und rechtlichen Interaktionszusammenhang leben, können und dürfen einer Verletzung der Grundlagen ihres Zusammenlebens schlechterdings nicht gleichgültig gegenüberstehen.

Freilich sind die Perspektiven bei Paulus und Kant zugleich grundverschieden: Paulus reflektiert gleichsam die christliche Binnensicht von Gemeinde und Individuen, während Kant den globalen Kontext einer - zu seiner Zeit durchaus kontrafaktischen - Völkerrechtsgemeinschaft in den Blick nimmt. Diese Inkongruenz lädt freilich dazu ein, nach dem zu fragen, was beide Perspektiven vereinigt. Wie verhält sich die Gemeinschaft der Kirchen zur Völkerrechtsgemeinschaft? Inwiefern kann und darf gerade die Gemeinschaft derer, die dem Leib Christi angehören, den Rechtsverletzungen in keinem Teil der Erde gleichgültig gegenüber bleiben? Inwiefern ist es unabweisbar geworden, dass die Verletzung grundlegender Menschenrechte in ganz besonderer Weise auch die Gemeinschaft und die Einheit der Christen und Kirchen infragestellt? Wie können und sollen Kirchen und Christen insbesondere auf die Verletzung grundlegender Menschenrechte antworten?

1. Herausforderungen der heutigen Situation

1.1 Wo sind die Friedensstifter?

"Die NATO führt Krieg, doch der Pazifismus ist still. Man sieht ihn nicht in der Tagesschau. Der Pazifismus läuft nicht mit Plakaten durch die Fussgängerzonen. Er sitzt nicht mehr protestierend vor den Eingangstoren der Kasernen. Er findet sein Publikum nicht mehr. Er beschäftigt die Politik kein bisschen, ja nicht einmal die Strafgerichte.Er ist nicht mehr schick, man trägt ihn nicht mehr." Mit diesen Worten begann ein Artikel des leitenden innenpolitischen Redakteurs der "Süddeutschen Zeitung", Heribert Prantl, mit dem Titel "Franz von Assisi und die NATO". Prantl wollte die Pazifisten nicht verunglimpfen und beleidigen. Er ist einer der wenigen politischen Redakteure in Deutschland, ja, in den grossen europäischen Zeitungen, der in den vergangenen Jahren immer wieder die Aufweichung des grundrechtlich verbürgten Asylrechtes und die Ausweitung der staatlichen Überwachung durch Lauschangriffe kritisiert hat, der die Verbreitung des Tucholsky-Wortes "Soldaten sind Mörder" als legitimen Ausdruck politischer Meinungsfreiheit verteidigt hat und der wie wenige die Freiheit der Kritik und das "Palladium der Feder" (Kant) verteidigt hat. Prantl stellt fest: Die Zeit des Pazifismus, der anscheinend anfangs der 1980er Jahre weite Kreise erfasst hatte und damals vielleicht sogar irgendwie "schick" war, ist vorbei. Die grüne Partei in Deutschland unterstützt ihren Aussenminister, der unter dem Eindruck des Massenmordens von Srebrenica zum Anwalt humanitärer Interventionen unter Einschluss militärischer Gewalt geworden ist und zu dieser Wandlung öffentlich steht. Der Einsatz völkerrechtlich zulässiger militärischer Gewalt als ultima ratio bei schwersten, vorsätzlichen und dauernden Verletzungen von Menschenrechten wird erneut als "rechtmässiger Krieg" bejaht, und wenn es je restriktive Anwendungen der Kriterien des "bellum iustum" gegeben hat, dann doch wohl angesichts von planmässigen Vertreibungen, Vergewaltigungen und Völkermord. Prantl diagnostiziert zurecht: "Die Pazifisten sind still geworden", aber er fügt sogleich hinzu: "aber nicht untätig; ihr Pazifismus läuft einem nicht mehr über den Weg, er ist nicht spektakulär, und er eignet sich nicht für Schlagzeilen. Sie arbeiten bei Pax Christi oder in der Aktion Sühnezeichen, sie reden über Strategien ziviler Konfliktbewältigung und sie wissen, wie lächerlich es wäre, in den Fussgängerzonen gegen Milosevic zu demonstrieren." Der "stille" Pazifismus ist heute, was er wahrscheinlich im Grunde immer war - "Beten und Tun des Gerechten" (Dietrich Bonhoeffer) in einer gewalttätigen Welt und für diese Welt.

1.2 Menschenrechtsschutz und militärische Zwangsmittel

Warum sind angesichts der Entwicklungen insbesondere auf dem Balkan, aber auch in Zentralafrika, in Somalia oder Algerien, viele Pazifisten von ihren früher vertretenen Überzeugungen und Loyalitäten abgerückt? Warum denken viele "Grüne", die ihre Partei im Zeichen von Umweltschutz, Basisdemokratie und Gewaltfreiheit gegründet haben, humanitären Interventionen auch mit militärischen Mitteln ihre Unterstützung nicht versagen zu dürfen?

Die ungeheuren Spannungen religiöser, ethnischer, nationalistischer und wirtschaftlicher Art, die sich nicht erst seit Jahrzehnten auf dem Balkan überlagert und verstärkt haben und in den letzten zehn Jahren brutal explodiert sind, dürften jede Politik und alle Politiker überfordert haben. Deshalb habe ich mich nicht an wohlfeilen Distanzierungen von aller militärischen Gewaltanwendung beteiligt, die heute bisweilen rechtskonservative Militärs und pazifistische Grüne eint. Wenn man verfolgt hat, wie die deutschen Friedensforschungsinstitute in ihren jährlichen Friedensgutachten über die Entwicklungen in Südosteuropa informiert haben, dann muss man feststellen, dass inzwischen so gut wie alle "worst-case-scenarios", wie Militärs sagen, eingetreten sind. Man muss ebenfalls feststellen, dass die Politiker diese Einschätzungen weitgehend geteilt und im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht haben, sich diesen Entwicklungen entgegenzustellen. Darum führt meines Erachtens auch jede Gleichsetzung der NATO-Politik gegenüber Restjugoslawien mit der "appeasement"-Politik der europäischen Mächte von 1938 ebenso in die Irre wie die Parallelisierung von Hitler und Milosevic. Möglicherweise sind Fehler gemacht worden, insbesondere bei der Ausklammerung der die Zukunft des Kosovo betreffenden Fragen im Dayton-Abkommen. Auch gab es immer wieder Auffassungsunterschiede und Interessengegensätze zwischen den EU-Staaten und zwischen den NATO-Mitgliedern, aber man kann ernsthaft nicht in Zweifel ziehen, dass alle verantwortlichen Politiker bereit waren und sind, alles zu tun, um Krieg und Völkermord in Europa zu verhindern. Was aber ist, wenn anscheinend alle friedlichen Mittel, Völkermord zu verhindern, erschöpft sind?

An dieser Stelle sehe ich den Kern der heutigen Herausforderungen für das Friedenszeugnis aller Kirchen. Ich betone hier zunächst eine tiefe Gemeinsamkeit aller Kirchen, weil und insofern die friedensethischen Positionen der "konstantinischen" Kirchen einerseits, der Friedenskirchen andererseits sich in den letzten drei Jahrzehnten deutlich angenähert haben, insbesondere im gemeinsamen Eintreten gegen Massenvernichtungswaffen und jene Militärstrategien, welche die Androhung des Einsatzes und den Einsatz eben dieser Waffen im Extremfall nicht ausschliessen. Als wichtige Ergebnisse dieser Konvergenz und Gemeinschaft zwischen den in der Geschichte scharf abgegrenzten Kirchen halte ich fest: Niemand kann und darf heute mehr behaupten, dass der Pazifismus eine privatistische Gesinnungsethik vertritt und die politische Verantwortlichkeit scheut. Niemand kann ernsthaft noch bezweifeln oder bestreiten, dass Perspektive und Zielrichtung des christlichen Friedenszeugnisses grundlegend und unzweideutig durch die Gewaltfreiheit bestimmt sind. Und kaum jemand wird widersprechen, wenn von Kirchen und Christen die verbindliche und wirksame Ächtung jedes Krieges gefordert wird. Umstritten aber ist wie eh und je die Frage, ob und wann dem Recht, insbesondere elementaren Menschenrechten, notfalls auch mit gewaltsamen Mitteln zur Anerkennung und Durchsetzung verholfen werden darf und muss. Neu an dieser Frage der Rechtswahrung notfalls mit gewaltsamen Mitteln sind die heutige rechtsethische Orientierung an universalen Menschenrechtsstandards einerseits, die Qualität der völkerrechtlichen Institutionen und Verfahren andererseits. Zwar ist im Blick auf die heutige Lage auf dem Balkan die völkerrechtliche Vertretbarkeit des NATO-Einsatzes nicht über jeden Zweifel erhaben, sondern durchaus umstritten, aber es ist immerhin gut vorstellbar, dass die UN und der Sicherheitsrat in Zukunft auch militärische Sanktionsmassnahmen nach Kap.VII der Charta der UN beschliessen und tatsächlich durchführen werden. Rechtlich würde es sich dabei um die Inanspruchnahme eines völkerrechtlichen Gewaltmonopols der UN handeln, wenigstens in ersten Ansätzen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Existenz, Zeugnis und Friedensethik der Kirchen im allgemeinen, der Friedenskirchen im besonderen?

1.3 Die Kirchen und der Frieden

Die meisten Christen und Kirchen sind in der gegenwärtigen Situation ohnmächtig und gelähmt. Was ist nicht alles versucht worden, um den drohenden Eruptionen der Gewalt vorzubeugen, sie anzuprangern, abzumildern und aufzuhalten?! Niemand hat Waffen gesegnet, niemand zum heiligen Krieg aufgerufen, niemand etwas Anderes im Ernst erwartet und gewusst, als dass der Krieg auf dem Balkan und erst recht sein Überspringen auf den Kosovo eine ungeheure Katastrophe darstellt. Freilich hat es aus manchen Kirchen nationalistische Töne gegeben, die auch bisweilen schrill geklungen haben, aber dass auf kriegerischer Gewalt kein Segen ruhen könne, das war allen klar und bildet geradezu einen cantus firmus ökumenischer Friedensethik, auch und besonders der Friedensethik der orthodoxen Kirchen. Alle Kirchen haben diesen Krieg nicht gewollt - auch nicht die "Staatskirchen" und die "Nationalkirchen". Insofern stehen heute die Friedenskirchen und die "konstantinischen" Grosskirchen in ihrer Ächtung des Krieges Seite an Seite.

Für die Friedenskirchen und die Friedensdienste ist freilich der jetzige Krieg in ganz besonderer Weise eine Katastrophe. Die meisten Freiwilligenorganisationen mussten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Hause holen, wenn sie nicht deren Leben akut gefährden wollten. Davon betroffen sind insbesondere jene Frauen und Männer, die im Sinne elementarster Friedensarbeit an ganz bestimmten Orten durch ihre Existenz und ihr Zeugnis helfen wollten, lokale Konflikte wahrzunehmen und zu bearbeiten. Sie mussten ein Land verlassen, in das sie - wenn überhaupt - erst nach furchtbaren Zerstörungen einmal werden zurückkehren können. Dann wird ihre Arbeit extrem schwierig sein. Das alles ist für Pazifisten genauso schwer oder gar nicht zu verstehen wie es, auf einer gänzlich anderen Ebene, für Steuerzahler nachvollziehbar ist, nicht nur jetzt für Bomben, die Brücken, Fabriken und Kraftwerke zerstören, zu bezahlen, sondern künftig auch für deren Wiederaufbau zur Kasse gebeten zu werden.

2. Christusnachfolge und Gewaltfreiheit im politischen Gemeinwesen

Man muss die historischen Friedenskirchen nicht glorifizieren. Ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen kennen ihre eigenen Mitglieder selbst am besten. Sie handelten keineswegs immer und überall nur gewaltfrei. Um dem Gottesreich zum Durchbruch zu verhelfen, gab es unter ihnen auch bisweilen physischen und psychischen Zwang - nach aussen wie nach innen. Doch über diesen Seiten darf mindestens zweierlei nie vergessen werden: Die elementare Orientierung der Friedenskirchen an der Christusnachfolge einerseits, die Fähigkeit und Bereitschaft zur Solidarität mit den Opfern von Unrecht, Gewalt und Krieg andererseits. Die praktizierte Gewaltfreiheit der Friedenskirchen erwies sich dabei im Jahrhundert der Weltkriege als wahrscheinlich wichtigste Herausforderung und Mahnung an die etablierten Kirchen, ihre traditionellen Aufassungen von Krieg, Frieden und Rechtswahrung mit Zwangsmitteln von Grund auf zu überdenken.

2.1 Freikirchliche Existenz in der Christusnachfolge

Ihrer historischen Entstehung und rechtlichen Verfassung nach waren die meisten Friedenskirchen Freikirchen. Nicht nur genossen sie keine staatlich-politischen Privilegien, sondern sie sahen sich immer wieder kirchlicher und staatlicher Verfolgung ausgesetzt, sofern man sie nicht aus wirtschaftlichen oder politischen Nützlichkeitserwägungen tolerierte oder gar förderte, wie im aufgeklärten Staat Friedrichs II. von Preussen oder Zar Peters in Russland. Nach der Katastrophe des Täuferreiches zu Münster gab es keine gewaltsame Selbstbehauptung friedenskirchlicher Existenz mehr.

Im Zentrum dieser Existenz stand und steht eine sehr elementare Gestalt der Christusnachfolge. Grosskirchen haben den Freikirchen immer gern "Biblizismus" vorgeworfen, wenn es in Wahrheit schlicht darum ging, der Botschaft der Bibel gegenüber "einfältigen Gehorsam" zu erweisen, statt die Worte beispielsweise des Bergpredigers solange hin- und herzuwenden, bis man auch das Gegenteil ihres einfachen Wortsinnes damit legitimieren konnte. Aus dem Verständnis der Christusnachfolge ergeben sich unmittelbar ein ganz bestimmtes Gemeinde- und Kirchenverständnis mit den Merkmalen der Freiwilligkeit und Verbindlichkeit einerseits, eine bestimmte Auffassung vom sittlichen Verhalten und Handeln andererseits. Im Unterschied zu den etablierten Kirchen haben die Täufer und Angehörigen der Friedenskirchen immer eine Art heiliger Rücksichtslosigkeit gegenüber den Forderungen und Geboten der "Realpolitik" gezeigt und ihrerseits versucht, auch und gerade die höhere Vernünftigkeit der "Politics of Jesus" (John Howard Yoder) zu erweisen. Daran ist für mich immer zweierlei grundlegend und überzeugend gewesen: Erstens die tiefe Überzeugung, dass, wie Balthasar Hubmaier bekannte, "die Wahrheit untödlich" ist und darum auch nur gewaltfrei kommuniziert werden darf, und zweitens die Bereitschaft, alle Folgen des Eintretens für diese Gewaltfreiheit im politischen Bereich auf sich zu nehmen - nicht im Sinne der passiven Leidensbereitschaft, sondern einer aktiven Gewaltfreiheit. Deren konsequente Gestalten sind die - letztlich in einem ganz bestimmten Christusverständnis grundgelegten - Existenzhaltungen von Stellvertretung und Solidarität sein.

2.2 Stellvertretung und Solidarität

Vor kurzem habe ich eine kleine Untersuchung über die exemplarische Funktion des Sklavereiverbotes in der europäischen Geschichte für die Bestimmung universaler Menschenrechte gemacht. Dabei ist mir zunehmend deutlicher geworden: Es waren fast immer Minderheiten, oft verfolgt, denen aufgrund exemplarischer Unrechtserfahrungen allererst aufging, dass ihr Ort an der Seite der Opfer war. Aus freikirchlichen Traditionen kamen viele der frühen Kämpfer der Anti-Sklaverei-Bewegung. Sie vereinigten zumindest folgende Elemente in ihrem Leben: Eine tiefe, oft auf den ersten Blick "naiv" anmutende Bibelfrömmigkeit, eine oft ganz plötzlich aufbrechende Sensibilität für schwerwiegende Rechtsverletzungen und Rechtsverweigerungen, und eine Fähigkeit und Bereitschaft zum Perspektiven- und Positionswechsel. Zu der besonderen Frömmigkeit gehört jener Zug, den man früher gern - heute eher verharmlosend klingend - "Bekehrung" nannte; damit ist aber nicht mehr und nicht weniger gemeint als die Erfahrung, dass in der elementaren Begegnung mit dem biblischen Zeugnis ein Mensch die über ihn und sein Leben entscheidende Wahrheit erfährt. (Ein solcher Text sind beispielsweise die Berufungsgeschichten von Mt 10.) Die Sensibilität für vielerlei Unrecht wurde hierdurch gleichzeitig geschärft, denn es wurde und wird immer wieder deutlich, dass die Hinnahme von Verbrechen und Ungerechtigkeit das Christuszeugnis selbst dementiert, auch wenn für das Unrecht zunächst "nur" die weltlichen Mächte verantwortlich sind. So führte ihre sensible Unrechtswahrnehmung die Täufer und die Mitglieder der Friedenskirchen immer wieder zu politischem Protest und zum Aufbegehren gegen die Ursachen von Gewalt, Not und Unfreiheit. Die aktive Gewaltfreiheit der Täufer und Friedenskirchen zielte auf tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel aufgrund des Geistes und der Taten der Feindesliebe. Gewiss gab es auch einen quietistischen Pazifismus, doch wo sich mit der Gewaltfreiheit eine handlungsorientierte Hoffnung auf das Reich Gottes verband, drängten die Mitglieder der Friedenskirchen auf die aktive Gestaltung einer gewaltfreien und solidarischen Gesellschaft.

2.3 Gewaltfreiheit für andere

Wegen ihrer Ablehnung jeder Beteiligung an staatlichen Gewaltmassnahmen sind die Christenmenschen und die Kirchen, die aus der Täuferbewegung oder anderen Quellen hervorgegangen sind, vielfach verfolgt worden. Die Geschichte der Mennoniten ist immer auch eine Geschichte ihrer Vertreibungen und Wanderungen. Auf der anderen Seite konnte die Wehrfreiheit allerdings auch zu einem vom Staat verliehenen Privileg werden, für welches Gegenleistungen fällig wurden - sei es in Gestalt einer Wehrsteuer oder der Stellung eines Ersatzmannes. Man hat deshalb den täuferischen Gruppen von Beginn an immer wieder vorgeworfen, sich der bürgerlichen Mitverantwortung für die Aufgaben des politischen Gemeinwesens zu entziehen. Das ist natürlich ein absurder Vorwurf, solange durch Verfolgung und Vertreibung politische Partizipation unmöglich gemacht wurde. Viel wichtiger aber ist die Tatsache, dass im 20. Jahrhundert aus den Friedenskirchen heraus Friedensdienste aufgebaut wurden, und zwar als Freiwilligendienste, welche von staatlichen Organisationen der Entwicklungshilfe strikt unterschieden sind. Diese Friedensdienste sind aus kleinen Anfängen weltweit entstanden und haben sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre zunehmend vernetzt, insbesondere mit Hilfe von "Church and Peace". Die vorrangigen Arbeitsbereiche dieser Freiwilligendienste haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten verändert, verlagert und ausgeweitet. In der Zeit des Kalten Krieges war entscheidend, dass die Dienste versuchten, die Blockkonfrontation so weit als möglich zu überwinden; die Bedeutung der "Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste" zur Vorbereitung einer neuen Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland wird man kaum überschätzen können. Spätestens seit den 1960er Jahren wuchs das Engagement in der sogenannten Dritten Welt, insbesondere in Lateinamerika. Hinzukamen über Jahrzehnte Einsätze in Nordirland und zuletzt ein intensives Engagement auf dem Balkan, welches der Kosovo-Krieg brutal unterbrochen hat.

Das Selbstverständnis dieser Dienste kann man vielleicht am besten als Praxis einer gewaltfreien Politik von unten durch kleine Nachfolgegruppen charakterisieren. Ich muss zwei Beobachtungen hinzufügen: Diese Gruppen existieren eher im Verborgenen als im Licht der Öffentlichkeit, und sie werden in ihrer besonderen Bedeutung für das kirchliche Friedenszeugnis auch heute noch von den Grosskirchen viel zuwenig gewürdigt. Wenn mich Leute vorwurfsvoll fragen, was denn "die Kirchen" jetzt auf dem Balkan tun, dann gebe ich ihnen ein Heft von "Kirche und Frieden". Die Reaktion nach der Lektüre lautet dann meist: Warum steht denn davon nichts in den Zeitungen?

3. Staatlichkeit, Menschenrechte und Völkerrecht - eine alte und neue Frage an die Friedenskirchen

Wenn ich gelegentlich versucht habe, solidarische Kritik an bestimmten Einstellungen und Handlungsweisen der Friedenskirchen zu üben, dann geschah dies unter der Voraussetzung einer grundsätzlichen Zustimmung zum friedenskirchlichen Friedenszeugnis und seiner Begründung. Meine Fragen setzen dort ein, wo es um die Frage der Übernahme politischer Verantwortung und politischer Funktionen beziehungsweise Ämter geht. Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Rechtsverzicht aufgrund der in der Christusnachfolge wurzelnden Gewaltfreiheit ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Folgen christlicher Freiheit. Wie aber steht es mit dem Eintreten für die verletzten Rechte anderer im Gegenüber zu Personen und Institutionen, welche derartige Rechtsverletzungen ursächlich und vorsätzlich bewirken? Damit ist eine rechtsethische Grundfrage berührt, die heute nicht mehr angemessen in der Form des Gegensatzes von sogenannter Zwei-Reiche-Lehre einerseits, dem Bekenntnis zur Königsherrschaft Christi andererseits gestellt und beantwortet werden kann. Schon ihr reformationsgeschichtlicher Ort war vielmehr die Kontroverse um das Verhältnis des individuellen und gemeinschaftlichen Christuszeugnisses (einschliesslich der Gewaltlosigkeit) zu den Handlungsanforderungen in einem "weltlichen" Amt beziehungsweise, in Martin Luthers Sprache, um das Verhältnis von "Christperson" und "Amtsperson". Ein Christenmensch, so waren die Reformatoren überzeugt, kann und soll für sich selbst auf notfalls gewaltsame Selbstbehauptung verzichten; als Amtsträger oder Bürger hingegen muss er im öffentlichen Gemeinwesen das (richtige) Recht auch gegen Widerstreben durchsetzen, und zwar gerade um der aktuellen und potentiellen Opfer von Rechtsverletzungen willen. Zugespitzt: Wann stellt sich sogar für einen überzeugten Vertreter der aktiven Gewaltfreiheit jene extreme Herausforderung, welche darin besteht, um der Gewaltopfer willen dem Bösen und dem, der Unrecht tut, notfalls auch mit Gewalt in den Weg zu treten und das Handwerk zu legen - jedenfalls sofern man über die dazu erforderlichen Mittel verfügt? Wann und mit welchen Mitteln kann und muss auch ein Mensch, der für sich selbst jede Gewalt ablehnt, "dem Rad selbst in die Speichen zu fallen" wagen?

Dies ist die alte Frage der Bischöfe Ambrosius und Augustinus, deren Beantwortung zu den Lehren vom rechtmässigen Kriege geführt hat, wie sie jahrhundertelang in der Christenheit vertreten worden sind. Diese Lehren haben zurecht vielfache Kritik erfahren. Doch muss man sich klarmachen, dass ihr Kern und ihr Ziel nicht in der Legitimierung und Entschränkung militärischer Gewalt lagen, sondern in der möglichst scharfen Eingrenzung der Anlässe und Gründe, die einen Rückgriff auf gewaltsame Mittel zum Zwecke der Verhinderung und Überwindung widerrechtlicher Gewalt erfordern können. Es geht, pointiert gesagt, den Vertretern einer Lehre vom rechtmässigen Krieg wie den Vertretern der Gewaltfreiheit um die Überwindung rechtloser oder widerrechtlicher Gewalt - letzteren (ausschliesslich?) durch gewaltlose Mittel und Handlungen, ersteren durch einen wirksamen und notfalls sanktionsbewährten Rechtsschutz. Rechtsschutz heisst hier: Rechtlich gebundene Gewalt als Mittel zur Verhütung, Bekämpfung und Überwindung rechtswidriger Gewalt. Als Inbegriff schlechthin rechtswidriger Gewalt sind in der Gegenwart auf der Basis der UN-Charta, des Völkerrechts und rechtsstaatlicher Verfassungen alle Handlungen anzusehen, welche vorsätzlich und dauerhaft grundlegende Menschenrechte negieren. Angesichts derartiger Unrechtshandlungen, zu denen zweifellos der Völkermord gehört, kann nach inzwischen weit verbreiteter Völkerrechtsauffassung nicht mehr unter Verweis auf staatliche Souveränität ein Recht zu humanitären Interventionen abgelehnt werden.

Das politische Bezugsproblem der Lehren vom rechtmässigen Krieg wie vom staatlichen Gewaltmonopol bildeten die Verhinderung von Gewalt, die Abwehr von Aggressionen und der Schutz des Rechtes. Nach Gründung der UN und vollends nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation des "Kalten Krieges" hat sich freilich der politische und vor allem der völkerrechtliche Kontext dieser zentralen Frage von Grund auf verändert. Dadurch ist meiner Wahrnehmung zufolge auch das traditionelle friedenskirchliche Zeugnis neu herausgefordert. Zugespitzt frage ich: Inwiefern kann und muss sich möglicherweise das friedenskirchliche Zeugnis strikter Gewaltfreiheit im Blick auf den Sachverhalt verändern, dass das faktisch oder potentiell unfriedliche Nebeneinander von Staaten oder Staatengruppen in eine Art "Weltinnenpolitik" (Carl Friedrich von Weizsäcker) übergeht?

Zu den veränderten oder sich verändernden politischen Rahmenbedingungen zähle ich vor allem folgende Aspekte:

(1) Das Prinzip der völkerrechtlich verbürgten staatlichen Souveränität, welches dem alten Ius Publicum Europaeum zugrundelag, ist durch mancherlei Entwicklungen und zahlreiche (völkerrechtliche) Institutionen und Verfahren stark relativiert worden. Nach dem Ende der Ost-West-Blockkonfrontation ist es zwar nicht gelungen, die Grundpfeiler einer "neuen Weltordnung" zu entwickeln, aber es ist doch deutlich, dass eine Rückkehr zu alten Souveränitätsvorstellungen ausgeschlossen werden sollte. Die aktuelle politische Aufgabe heisst m.E. also heute: Ausbau der internationalen Institutionen und Stärkung von deren Mitteln zur Friedenserhaltung und Friedenserzwingung. Dies ist nach meiner Überzeugung die einzige - langfristige - Alternative sowohl zu einem Konzept des Kräftegleichgewichts von Staatengruppen als auch zur Ordnungsfunktion einer einzigen globalen "Supermacht". Möglich ist ein allmählicher Übergang zu einem derartigen völkerrechtlich verbürgten Gewaltmonopol der UN überdies nur unter den Bedingungen, dass auch die Grossmächte sich den Verfahren und Bestimmungen eines solchen Systems unterordnen, und dass eine derartige internationale Ordnung nicht durch ein Veto willkürlich blockiert werden kann. Der Weg dahin ist weit, aber der Balkankrieg erweist ihn meines Erachtens als notwendig.

(2) Trotz aller gelegentlichen Kritik an der universalen Geltung von Menschenrechten und ihrer angeblich einseitigen Interessengebundenheit hat sich der harte Kern von Bestimmungen zum rechtlichen Schutz von allen Menschen im Bewusstsein der meisten Menschen Achtung verschafft. Über die kulturelle Partikularität der Menschenrechte klagen meist nur noch diejenigen, die diese Rechte anderen verweigern. Entscheidend ist dabei, dass sich seit 1945 auf dem Boden der UN ein Geflecht menschenrechtlicher Standards entwickelt hat, dem zunehmend auch mit Hilfe bestehender und neu eingerichteter Gerichtshöfe zur Nachachtung verholfen wird. Und es ist von grosser Bedeutung, dass in den letzten Jahren zunehmend die Einsicht gewachsen ist, dass auch mit den Mitteln des Strafrechtes gegen die hartnäckigen, brutalen Verletzer elementarer Menschenrechte vorgegangen werden muss. Dass dies erst dann völlig überzeugend geschieht, wenn auch die "grossen Hansen" dieser Justiz zuverlässig unterworfen sein werden, sollte an der Notwendigkeit dieses Weges an sich nicht zweifeln lassen.

Im Blick auf beide Aspekte - die Relativierung staatlicher Souveränität und den auch strafrechtlich zu sichernden Schutz der Menschenrechte - gilt im übrigen, dass es immer wieder hervorragende Vertreter des Pazifismus waren, die als Anwälte und Vordenker des Völkerrechts im 20. Jahrhundert aufgetreten sind. Nicht alle diese Frauen und Männer kamen aus den Kreisen der Friedenskirchen, aber sie haben, wie die Mitglieder dieser Kirchen, eine gleichsam menschheitsbezogene advokatorische Stellvertreterfunktion für die Politik wahrgenommen. Völkerbund und Vereinte Nationen haben neuartige Institutionen geschaffen, welche auch einen neuen Bezugsrahmen für die Rechts- und Friedensethik definieren. Ich möchte zusmmenfassend behaupten: In dem Masse, in dem den UN ein wirksames, völkerrechtlich klar bestimmtes internationales Gewaltmonopol zuwächst, nähert sich, dem Zweck und der Bestimmung nach, der Einsatz militärischer Gewaltmittel nach Massgabe des modernen Völkerrechtes den rechtsstaatlichen Funktionen der Polizei im Innern der Staaten. Die neue Frage an die Friedenskirchen lautet dann: Können sie auf Dauer internationale UN-Streitkräfte ablehnen, wenn sie die Aufgaben der Polizei bejahen?

4. Rechtsordnung und Gewaltprävention

4.1 Frieden muss "gestiftet" werden

Ein Frieden, der diesen Namen wirklich verdient, muss "gestiftet" werden. Denn ein Friedenszustand ist kein Naturzustand, der als solcher in Wahrheit ein Zustand des (latenten) Krieges ist. Im Naturzustand herrscht zwar nicht jederzeit offene Feindseligkeit, wohl aber erfolgt (zumindest latent) deren Androhung. Frieden zu "stiften" bedeutet, aus Vernunft und Einsicht diejenigen Institutionen und Strukturen zu schaffen, welche allen Menschen einen hinreichenden rechtlichen Schutz garantiert. Bei Kant lautet in der Friedensschrift das Postulat, welches seinen drei "Definitivartikeln zum Ewigen Frieden" zugrundeliegt: "Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfliessen können (sc. sich beeinflussen können, WL), müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören".

Daraus ergeben sich für Kants Begriff einer wirklichen Friedensordnung folgende drei "Definitivartikel", die ich jetzt nur nenne, aber in ihrem systematischen Zusammenhang nicht ausführe:

(1) "Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein."

(2) "Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein."

(3) "Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein."

Nur wenn diese drei Elemente - das ius civitatis, das ius gentium, und das ius cosmopoliticum - zusammenwirken, kann die Stiftung des Friedens gelingen.

Kant ist indes durchaus nicht der Auffassung gewesen, dass eine derartige Friedensstiftung von Religion oder Kirche ausgehen müsse oder könne, sondern er meinte, dass die Notwendigkeit des Friedens durch die Nötigung der ungeselligen Natur der Menschen und durch die Erkenntnis ihrer gemeinsamen Überlebensbedingungen einsichtig gemacht werden könne. Man kann aber über Kant hinaus darauf verweisen, dass eben diese Einsicht in die Bedingungen des Friedens (und damit auch der Bedeutung der drei "Definitivartikel") eines sozialen Trägers bedarf, welcher über die Philosophen und die Mitglieder der "Gelehrtenrepublik" weit hinausreicht. Ohne die soziale Verankerung in einer realen "Friedensbewegung" wird die Idee des ewigen Friedens nicht zu einer praktisch wirksamen Kraft. Ich denke deshalb, dass die Ökumenizität der Kirchen und Religionen und eine globale Völkerrechtsordnung in einer wichtigen, aber auch prekären Wechselbeziehung stehen. Diese Relation ist prekär, weil in der Geschichte immer wieder (auch) von den Religionen Gewalt und Unfrieden ausgegangen sind. Genau in dieser Hinsicht haben die Friedenskirchen in die Geschichte des Christentums entscheidend eingegriffen und sind mit Wort und vor allem mit konkreten Taten dafür eingestanden, dass Recht und Frieden letztendlich nur aus dem Geist der Gewaltfreiheit gestiftet werden können. Hierin sehe ich, um auf den Titel und die Vorbemerkung dieser Überlegungen zurückzuweisen, die Bedeutung der Friedenskirchen für den Leib Christi und zugleich für eine Weltfriedensordnung.

4.2 Konsequenzen

Angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen um Bürgerkriege, Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen und Völkermord sollte die in der öffentlichen Meinungsbildung vorherrschende Fixierung auf die militärischen Aspekte irritieren. Hier ist nach meiner Überzeugung in der Gegenwart Entscheidendes von den Friedenskirchen und den Friedensdiensten zu lernen. Denn ihre Mitglieder und Vertreter wissen aus jahrhundertelanger Erfahrung, dass Frieden zu stiften weit schwerer ist als Krieg zu führen. Mit Waffengewalt kann man zerstören, unter günstigen Umständen aktuelles oder drohendes Unrecht abwehren, aber nicht eine Friedensordnung errichten. Diese muss aus den freiwilligen Beiträgen der Betroffenen entstehen. Dazu gibt es hauptsächlich drei typische Arten von Beweggründen: Der Wille zum Frieden kann aus Not und Erschöpfung erwachsen, wenn angesichts von unzähligen Toten und Verstümmelten nur noch ein Wort bleibt - genug. Oder Wille und Fähigkeit zum Frieden gründen auf Nützlichkeitsüberlegungen, auf einem Kalkül, das primär einseitig-parteiisch oder sogar gesamthaft-integrativ die Aussichten weiterer Militärgewalt gegen einen Ausgleichsfrieden abwägt. Drittens schliesslich kann die Stiftung des Friedens aus allgemeinen ethischen und rechtlichen Gründen der Vernunft und des Glaubens erfolgen, wobei hinzuzufügen ist, dass dies in der Regel nicht die Sache von grossen Kollektiven, sondern von kleinen Gruppen und Einzelnen ist. Paul Tillich hat diese drei grossen Motivationskomplexe zum Handeln mit den Stichworten "love, power, and violence" umschrieben; man kann daran anschliessen und drei Grundorientierungen politischen Handelns unterscheiden - die Orientierung an den Mitteln der Gewalt, des Nutzens und verallgemeinerungsfähiger sittlicher (auch religiös begründeter) Normen. In der politischen Realität haben wir es meist mit Mischungen dieser Grundorientierungen zu tun, so wie beispielsweise der sittlich gebotene und aus Einsicht bejahte Rechtsgehorsam der Bürger erstens auch dem allgemeinen Nutzen dient und zweitens im Falle des Rechtsbruchs auch mit einer rechtmässigen Strafe bedacht wird. Umgekehrt ist auch leicht zu sehen, dass erstens politische Stabilität mit äusseren Zwangsmitteln niemals dauerhaft garantiert werden kann und zweitens eine Nutzenorientierung immer auch wenigstens eines Minimums an sittlichen Grundsätzen bedarf, wie etwa in der Unterstellung von "Treu und Glauben" im Geschäftsleben.

Die Friedenskirchen und ihre Mitglieder, so möchte ich nun behaupten, zeichnen sich seit Jahrhunderten dadurch aus, dass sie in politischen und militärischen Konflikten meist weder Partei sind noch dauerhaft einseitig Partei ergreifen noch auf die Mehrung des eigenen Nutzens und des Nutzens ihrer Mitglieder bedacht sind. Sie sind gleichsam die "Agenten des Gemeinwohls" mit der besonderen Akzentuierung, dass das behauptete oder erstrebte bonum commune massgeblich durch das Ergehen der schwächsten Glieder einer Gesellschaft bestimmt werden muss - getreu einem Leitspruch des früheren deutschen Bundesverfassungsrichters Helmut Simon, der lautet: "Wer wenig im Leben hat, soll viel im Recht haben". Ganz ähnlich die Friedenskirchen: In ihrer gemeinschaftlich getragenen Friedensarbeit ergreifen sie, wenn ich richtig sehe, entschieden Partei, ohne selbst Partei zu sein oder sich mit einer Partei zu identifizieren. In dieser Hinsicht konvergieren übrigens friedenskirchliche und zahlreiche befreiungstheologische Positionen. Eine solche Stellvertreter- und Anwaltsrolle haben die Grosskirchen in ihrer Geschichte weit weniger wahrgenommen, wenngleich man nicht gut bestreiten kann, dass auch sie darum durchaus bemüht waren. Aber die Nähe zu den Zentren der Macht hat faktisch die Fähigkeit zu einer Parteien übergreifenden Friedensstiftung und zu einer "Option für die Armen" häufig begrenzt und gelähmt.

4.3 Unerlässliche Dimensionen des Friedenstiftens

Ein Kriterium der alten Lehren vom "rechtmässigen Krieg" lautete: finis pax. Es bedeutet sinngemäss: Wenn Du in einen Krieg hineingehst, sollst Du vorher (wenigstens in Umrissen) wissen, welche Art Frieden am Ende stehen kann. Das Kriterium enthält, näher besehen, wenigstens zwei Elemente: Erstens soll man rechtzeitig feststellen, nach welchen Prinzipien die zu stiftende Friedensordnung funktionieren soll, und zweitens muss diese Ordnung so beschaffen sein, dass sie eine Integration der ehemaligen Feinde ermöglicht, erleichtert und jedenfalls nicht erschwert.

Wenigstens drei Grundelemente lassen sich in dieser Hinsicht unterschieden. Finis pax muss Gewaltprävention, Rechtsschutz und ein Minimum sozialer Gerechtigkeit einschliessen. Damit erinnere ich lediglich an jenes Friedensverständnis, wie es seit den 1970er Jahren in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg vertreten wurde, dass nämlich von Frieden ernsthaft nur dort die Rede sein kann, wo wenigstens drei Dimensionen sich ergänzen: Der Schutz vor Not, vor Gewalt und vor Unfreiheit. Dieser Schutzkreis, so ist leicht einzusehen, umschreibt zugleich den Kernbereich unveräusserlicher Menschenrechte. Es dürfte an dieser Stelle genügen, wenn ich im Blick auf die aktuellen politischen und völkerrechtlichen Herausforderungen nur wenige Konkretionen andeute:

(1) Gewaltprävention umfasst viele Aspekte. Ihre elementarste Vorbedingung ist die physische Abrüstung in jeder Hinsicht. Innergesellschaftliche Gewaltprävention ist mit Selbsthilfe, Lynchjustiz, parapolizeilichem Selbstschutz und dergleichen unvereinbar. Die Bindung aller staatlichen Gewaltübung an Recht und Gesetz, das sogenannte Gewaltmonopol (welches eine Bindung und keine Entfesselung der staatlichen Zwangsbefugnis zum Gegenstand hat!), kann nur funktionieren, wenn die Bürger im allgemeinen ohne Waffen miteinander verkehren und im Streitfall der Rechtsweg offensteht. Entsprechendes gilt für den innerstaatlichen und den internationalen Verkehr der Ethnien und Staaten: Gewaltprävention ist nicht möglich ohne wirksame Abrüstung und die Bildung einer internationalen Streitmacht - nach Analogie der staatlichen Polizei - gemäss Kap.VII der UN-Charta.

Gewaltprävention umfasst freilich noch sehr viel mehr Dimensionen. Diese reichen von Gewalttätigkeiten zwischen den Geschlechtern und in den Familien bis zu den brutalen Exzessen politischer und anderer Fanatiker. Diese Phänomene und entsprechende Handlungsmöglichkeiten sind im allgemeinen gut erforscht und dokumentiert, und ich zweifle nicht, dass die Menschen überwiegend durchaus bereit sind, davon auch Gebrauch zu machen. Nur über eines sollte man sich keine Sekunde täuschen: Das Vermögen zur Gewalt ist vermutlich so tief verwurzelt und kann aus der Natur wohl eines jeden Menschen so unverhofft hervorbrechen, dass wir alle die Warnung des früheren deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann beherzigen sollten: Von den Fingern der ausgestreckten Hand weisen immer drei auf mich zurück.

Zur Gewaltprävention gehört schliesslich auch die Androhung und Ausübung von Sanktionen. Freilich sind nahezu alle politischen, philosophischen und theologischen Rechtfertigungen von Strafen umstritten, und wenn diese im Innern der Staaten problematisch sind, dann erst recht Sanktionen im Bereich der internationalen Beziehungen. Gleichwohl spricht alle historische Erfahrung dafür, dass ein völliger Verzicht auf Sanktionen - letztlich unter Einschluss der Androhung und Anwendung von Gewalt - auf die Preisgabe des Rechts an die Macht des Stärkeren hinausläuft. Diese Einsicht sollte dazu veranlassen, vor allem Sanktionsmöglichkeiten und -instrumente "short of force" zu entwickeln.

(2) Von den zahlreichen Dimensionen der Friedensstiftung durch wirksamen Rechtsschutz hebe ich heute nur zwei ausdrücklich hervor: Den Schutz der Menschenrechte und den Minderheitenschutz. Zum letzteren gehören unabdingbar gruppenbezogene Selbstbestimmungsrechte. Diesen ist wesentlich eigentümlich, dass sie mit Rechten anderer - Kollektiven oder Individuen - in Kollision geraten können. Es gibt immerhin Beispiele für gelungene Minderheitenschutzregelungen in Europa, etwa in Südtirol, und es gibt wenigstens ein Beispiel für ein rechtlich sorgfältig geregeltes Sezessionsverfahren, nämlich in der Schweiz, wie man in der Frage der Lösung des Kantons Jura vom Kanton Bern sehen konnte. (Freilich: In beiden Fällen kam das Nützlichkeitskalkül den normativen Einsichten der feindlichen Parteien entscheidend zu Hilfe.) Und es gibt auch wenigstens ein Beispiel für den Übergang von einem Menschenrechte verachtenden Unrechtsstaat zu einer auf der Basis der Menschenrechte errichteten, integrativen Verfassungsordnung, in welcher auch die ehemaligen Unterdrücker Recht und Sicherheit geniessen können, nämlich Südafrika. Gerade das letzte Beispiel zeigt im übrigen in nachdrücklichster Weise, welche segensreichen politischen Wirkungen vom Zeugnis der aktiven Gewaltfreiheit ausgegangen sind.

(3) Über den Zusammenhang von Friedensstiftung und sozialer Gerechtigkeit kann ich mich hier ebenfalls kurz fassen. Zum friedenskirchlichen Zeugnis gehörte in der Geschichte über weite Strecken stets die Bereitschaft zu sozialer Solidarität. Ein besonderes Zeichen war die hie und da praktizierte Gütergemeinschaft. Dass die Askese auch in diesem Fall, wie schon bei den Bettelorden des Mittelalters, paradoxe Wirkungen haben konnte, nämlich allererst den Reichtum anzuziehen, den man doch für sich selbst ablehnte, ist bekannt und hat Max Weber zu seiner zurecht heute kaum noch akzeptierten These von der Wahlverwandtschaft zwischen dem Geist des Protestantismus und dem neuzeitlichen Kapitalismus inspiriert. Für wichtiger und entscheidend halte ich indes die Tatsache, dass die Täufer und die Friedenskirchen im Christentum, das aus der Reformation hervorgegangen ist, gleichsam stellvertretend die klassischen und unverzichtbaren Aufgaben der monastischen Tradition in der Form freiwilliger Dienst- und Initiativgruppen weitergeführt haben - sowohl im Bezug auf die Gewaltfreiheit und im Blick auf die Verwendung irdischen Besitzes. Dabei handelt es sich offenkundig um zwei Entscheidungen und Handlungsweisen, die auch und gerade dann von grösster Bedeutung sind, wenn es um die Errichtung einer neuen Ordnung auf den Trümmern der Gewalt und des Krieges geht.

5. Ausblick: Wahrheit und Versöhnung

In einem Abschnitt seiner nachgelassenen Fragmente zu einer "Ethik" unterscheidet Dietrich Bonhoeffer zwischen "Vergebung" und "Vernarbung". Er schreibt: "Die Kirche erfährt im Glauben die Vergebung aller ihrer Sünden und einen neuen Anfang durch Gnade, für die Völker gibt es nur ein Vernarben der Schuld in der Rückkehr zur Ordnung, zum Recht, zum Frieden, zum freien Ergehenlassen der kirchlichen Verkündigung von Jesus Christus." "Vernarbung" ist danach ein Prozess, bei dem, was als Gewalttat oder Aufruhr begann, am Ende in eine erträgliche Ordnung einmündet. Bonhoeffer dachte dabei wohl an Oliver Cromwell's Revolutionsheer und Shakespeare's Königsdramen und spricht von Gottes gnädigem Regiment in der Geschichte.

Damit wird der Blick erneut gelenkt auf die Frage der finis pax und auf die Verantwortung der Menschen noch während eines Krieges oder Bürgerkrieges für das, was nach dem Krieg kommt und kommen muss. Dazu gehört die ungeheure Anstrengung, einen Frieden so zu "stiften", dass ehemalige Gegner nicht nur zwangsintegriert werden, sondern die neue Ordnung Platz für alle bietet, so dass - irgendwann - auch die einstigen Feinde einander gegenseitig zur Kenntnis nehmen, achten und schliesslich anerkennen können. In einer solchen Ordnung begegnen sich unvermeidlich Opfer und Täter. Wie kann das geschehen?

Aus den letzten Jahren gibt es eine Reihe von eindrücklichen Beispielen, wie man versucht hat, miteinander sich zuerst der Wahrheit dessen, was geschehen ist, zu stellen, und dann danach zu fragen, wie eventuell ein neuer - gemeinsamer - Anfang möglich werden kann. Am bekanntesten ist vermutlich die "Truth and Reconciliation-Commission" in Südafrika. Die Dokumente darüber sind erschütternd. Es ist unfasslich, wieder zu sehen und zu hören, was Menschen Menschen antun konnten und können. Doch noch weniger fassbar ist das immer wieder aufbrechende Vermögen der Opfer, selbst die Hand auszustrecken. Die Opfer der Gewalt sind die ersten, die wissen, dass und warum die aktive Gewaltfreiheit schlicht notwendig ist. Ein Ort und eine Gemeinschaft, wo dies erfahrbar war und ist, sind die Friedenskirchen und ihre Friedensdienste.

Anmerkungen

1. SZ Nr. 71 v. 26.3.1999, 17 (bemerkenswerterweise im Feuilleton).

2. Ich verwende den problematischen Ausdruck "konstantinische Kirchen", weil die Begriffe von Staatskirche, Volkskirche oder gar Grosskirche noch weniger zum Ausdruck bringen, dass es um die friedenskirchliche Kritik der Nähe und Zustimmung bestimmter Kirchen zur staatlichen Macht und insbesondere zur militärischen Gewalt geht. Der Ausdruck "konstantinische Kirche" wird vornehmlich von Vertretern der Historischen Friedenskirchen verwendet, um auf den historischen Ursprung dieser Staats- und Gewaltnähe in der sogenannten "Konstantinischen Wende" hinzuweisen; vgl. dazu insbesondere John Howard Yoder, Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, ZEE 6, 1962, 166-181; ders., Zur Überwindung der konstantinischen Irrlehre, in: Heinrich Treblin/Heiner Weitbrecht (Hgg.), Christusbekenntnis - Friedenszeugnis, Hamburg 1963, 57-72. Man kann indes mit guten Gründen bezweifeln, ob erstens "die" konstantinische Wende eine so scharfe Zäsur darstellt, wie oft (m.E. etwas ahistorisch) vorausgesetzt wird, und ob zweitens nicht die Doppelheit von Gewaltverzicht und Gewaltanwendung zum Nutzen der "Nächsten" sowohl das Gottesvolk des Alten Testaments als auch die Christenheit von ihren Anfängen an begleitet und bedrängt hat. Zu den historischen Problemen vgl. Ekkehard Mühlenberg (Hg.), Die Konstantinische Wende, Gütersloh 1998 (darin bes. Kurt Nowak zum Wandel des Konstantinbildes in der neueren Kirchengeschichte).

3. In der Frage der Rechtmässigkeit des NATO-Einsatzes geht es hauptsächlich um zwei strittige Fragen der Völkerrechtslehre: Die "Selbstmandatierung" eines Staates oder einer Staatengruppe ohne einen entsprechenden Beschluss der UN und des Sicherheitsrates einerseits, die Verunmöglichung dringend gebotener, sinnvoller Aktionen durch das Vetorecht der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat andererseits. Dass bei schweren Völkerrechtsverletzungen und natürlich bei Völkermord militärische Interventionen zu humanitären Zwecken auf Beschluss des Sicherheitsrates erlaubt oder geboten sein können, ist inzwischen im Völkerrecht kaum noch strittig, zumal es sich dabei ganz sicher nicht um eine Blankovollmacht für die Instrumentalisierung von Menschenrechten für imperialistische Ziele handeln darf. Andererseits ist eine darüber hinausgehende Intervention ohne Sicherheitsratsbeschluss gerade als Präzedenzfall äusserst gefährlich, weil das ohnehin fragile Gewaltanwendungsmonopol der UN missachtet wird. Auch das Vetorecht hat darin eine wichtige Funktion, dass es verhindern kann, Beschlüsse des Sicherheitsrates den Interessen bestimmter Staaten auszuliefern. Aus der neueren Literatur zu diesen Fragen vgl.u.a. Bruno Simma, NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, EJIL 10, 1999, no. 1, Antonio Cassese, Ex inuria ius oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community?, EJIL 10, 1999, no.1; Karl Doehring, Völkerrecht. Ein Lehrbuch, Heidelberg 1999, 431-436; Jochen Abr. Frowein, Der Schutz des Menschen ist zentral. Der Krieg in Kosovo und die völkerrechtliche Regelung der Gewaltanwendung, NZZ163 v. 17./18. Juli 1999, 79f..

4. Es obliegt dem Sicherheitsrat, festzustellen, ob "eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt" (Art. 39); er kann Empfehlungen aussprechen und vorläufige Massnahmen anordnen (Art. 40) und, falls friedliche Sanktionen (Art. 41) nicht greifen, "mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen durchführen" (Art. 42). Alle UN-Mitgliedstaaten sind dabei zur Unterstützung verpflichtet, einschliesslich der Bereitstellung von Streitkräften, wenn der Sicherheitsrat darum ersucht (Art. 43). Allerdings sind die vorgesehenen "Sonderabkommen", die das Nähere regeln sollen (ständige Luftstreitkräfte, Einsetzung eines UN-Generalstabsausschusses), bisher nicht zustandegekommen. Im übrigen bleibt von diesen Bestimmungen das "naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" im Falle eines bewaffneten Angriffs unberührt (Art. 51).

5. Zu den Ursprüngen vgl. Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 1980; ders., Art. Menno Simons/Mennoniten, TRE 22 (1992), 444-457 (Lit.).

6. Vgl. dazu insbesondere Wilfried Warneck, Friedenskirchliche Existenz im Konziliaren Prozess, Hildesheim-Zürich-New York 1990.

7. Vgl. dazu besonders Heinold Fast, Beiträge zu einer Friedenstheologie. Eine Stimme aus den Historischen Friedenskirchen, Vorwort Jörg Zink, Maxdorf 1982, 29-49.

8. Vgl. dazu Andrea Lange, Die Gestalt der Friedenskirche (Beiträge zu einer Friedenstheologie 2), Weisenheim/Berg 1988.

9. Die Politik Jesu - der Weg des Kreuzes (zuerst 1972), aus dem Amerikanischen von Wolfgang Krauss, Vorwort Jürgen Moltmann, Maxdorf 1981.

10. Vgl. den Abschnitt über die gewaltlose Nachfolge in meinem Buch: Gewalt und Gewaltverzicht, München 1982, 176-185.

11. Sklaverei und Menschenrechte (im Druck).

12. Vgl. W. Mannhardt, Die Wehrfreiheit der Altpreussischen Mennoniten, Marienburg 1863.

13. So in der klassischen Formulierung von CA 16: Damnant Anabaptistas, qui interdicunt haec civilia officia christianis. (BSLK 71) Auf der anderen Seite haben die Täufer vielleicht zu selten wahrgenommen, dass die affirmativen Aussagen von CA 16 "de rebus civilibus" von einer Erlaubnis, nicht von einer unbedingten Verpflichtung sprechen (christianis liceat - BSLK 70).

14. Vgl. EIRENE (Internationaler Christlicher Friedensdienst e.V.) (Hg.), 40 Jahre 1957-1997. Eine Chronik zum 40-jährigen Jubiläum, Neuwied 1997; Josef Freise/Eckehardt Fricke (Hgg.), Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat. Friedensfachdienste für den Süden und den Norden, Idstein 1997. Anschrift: EIRENE International, Engerserstr. 74b, Postfach 1322, D-56503 Neuwied. Internet: http://www.eirene.org.

15. Vgl. dazu beispielhaft Hildegard Goss-Mayr, Der Mensch vor dem Unrecht. Spiritualität und Praxis gewaltloser Befreiung, 4. Aufl. Wien--München-Zürich 1981.

16. Vgl. dazu besonders Warneck, a.a.O.

17. "Kirche und Frieden" ist die Quartalsschrift von "Church and Peace". Sie erscheint auf deutsch, englisch und französisch. Internationale Geschäftsstelle: Ringstrasse 14, D-35641 Schöffengrund. e-mail: [email protected].

18. Vgl. meinen Art. Gewalt/Gewaltlosigkeit, EKL 3. Aufl. Bd. 2 (1989), 163-169.

19. Vgl. meinen Art. Zwei-Reiche-Lehre, EKL 3. Aufl. Bd. 4 (1996), 1408-1419.

20. In der Schrift "Die Kirche vor der Judenfrage" vom April 1933 hat Dietrich Bonhoeffer diese Frage im Blick auf einen Staat gestellt, der seine Fundamentalaufgabe der Rechtssicherung vorsätzlich verrät und sich damit gleichsam selbst verneint. Wenn die Kirche einem solchen pervertierten Staat entgegentritt, handelt sie "unmittelbar" politisch. Dies ist für Bonhoeffer "nur dann möglich und gefordert, wenn die Kirche den Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagen sieht, d.h. wenn sie den Staat hemmungslos ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht verwirklichen sieht. In beiden muss sie dann die Existenz des Staates und damit auch ihre eigene Existenz bedroht sehen. Ein Zuwenig läge vor bei der Rechtlosmachung irgendeiner Gruppe von Staatsuntertanen, ein Zuviel läge dort vor, wo vom Staate her in das Wesen der Kirche und ihrer Verkündigung eingegriffen werden sollte, d.h. etwa in dem zwangsmässigen Ausschluss der getauften Juden aus unseren christlichen Gemeinden, in dem Verbot der Judenmission. Hier befände sich die christliche Kirche in statu confessionis und hie rbefände sich der Staat im Akt der Selbstverneinung." Zit. nach Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 12, Gütersloh 1997, 353f; vgl. dazu näher Marikje Smid, Deutscher Protestantismus und Judentum 1932/1933, München 1990, 419-485.

21. Vgl. dazu meinen Beitrag: Die Zerstörung der Menschlichkeit im Nationalsozialismus und das Ethos der Menschenrechte, in: Stephan Pfürtner u.a. (Hgg.), Ethik in der europäischen Geschichte II. Reformation und Neuzeit, Stuttgart usw. 1988, 148-166.

22. So schon 1979 Jost Delbrück, Menschenrechte im Schnittpunkt zwischen universalem Schutzanspruch und staatlicher Souveränität, GYIL 22, 1979, 384-402.

An dieser Stelle hat die vehemente Kritik Chinas am NATO-Engagement im Kosovo besonders nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad eingesetzt. Die VR China beharrt dabei uneingeschränkt auf den Prinzipien der staatlichen Souveränität, der territorialen Integrität und dem daraus folgenden Interventionsverbot. Die chinesische Militärführung hat in diesem Zusammenhang unverblümt darauf hingewiesen, dass die wichtigste Lehre aus dem Balkankrieg für kleinere und mittlere Staaten sein werde, sich ihrerseits Nuklearwaffen zur Abschreckung und Selbstverteidigung zuzulegen. Insgesamt muss man dabei die historisch durchaus berechtigte Besorgnis der chinesischen Führung vor einer 'containment'-Politik gegen China im asiatischen Raum im allgemeinen im Auge haben, und insbesondere ist die Befürchtung einer gewissen Parallelisierung der Unabhängigkeitsbestrebungen von Taiwan und Kosovo nicht von der Hand zu weisen. Um so wichtiger wird vor diesem Hintergrund, dass ein UN-Gewaltmonopol zur Friedenssicherung strikt überparteilich angelegt sein muss und dass deshalb die Beteiligung russischer Militärs an Schutztruppen in Kosovo kein Schaden, sondern im Gegenteil grundsätzlich zu begrüssen ist (sofern sie nicht das UN-Mandat selbst gefährden). Zu den chinesischen Reaktionen vgl. Peter Kreuzer, Asiatische Weltsichten: Der Kosovo als Baustein zur amerikanischen globalen Hegemonie (HSKK-Standpunkte Nr. 1/Juni 1999).

23. Zur Verdeutlichung dieser Anfrage füge ich hinzu, dass es mir in keiner Weise darum geht, dafür zu plädieren, dass die Friedenskirchen ihr Zeugnis der Gewaltfreiheit einschränken, relativieren oder gar aufgeben; ihr unvertretbarer Dienst am Leib Christi als der unsichtbar-sichtbaren ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen besteht gerade in der Treue zu diesem Erbe. Fragen möchte ich allerdings, ob die Mitglieder der Friedenskirchen heute nicht anerkennen können, dass "Amtspersonen" wie Bürger, wenn sie im eindeutigen Dienst der Rechtswahrung handeln, auch nicht apriori gegen den Willen Gottes handeln, wenn sie rechtswidriger Gewalt mit der Gewalt im Dienst des Rechts widerstehen. Damit nehme ich, um dies deutlich zu betonen, in modifizierter, nämlich auf das im Entstehen begriffene völkerrechtliche Gewaltmonopol der UN bezogener Weise die Position der "Heidelberger Thesen" von 1959 auf.

24. BA 19.

25. Aus der neueren Lit. zu Kants Friedenskonzept vgl. die Sammelbände: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt/M. 1996; Reinhard Merkel/Roland Wittmann (Hgg.), "Zum ewigen Frieden". Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1996.

26. Als Buch New York 1961.

27. So der Titel eines Aufsatzes von Simon über ökumenische Beiträge zur Rechtstheologie: ÖR 16, 1967, 338-357. Vgl. auch Willy Brandt/Helmut Gollwitzer/Johann Friedrich Henschel unter Mitarbeit von Marion Eckertz-Höfer/Roland Fritz (Hgg.), Ein Richter, ein Bürger, ein Christ (FS Helmut Simon), Baden-Baden 1987, bes. Teil VII.

28. Vgl. im Blick auf die Funktionen des Kirchenrechts meinen Beitrag: Kirche und Macht, in: Joachim Mehlhausen (Hg.), Recht - Macht - Gerechtigkeit, Gütersloh 1998, 161-178.

29. Es gibt in dieser Hinsicht bemerkenswerte nationale Traditionen in der Frage des Besitzes und Gebrauches von Schusswaffen. Während in den USA die "National Rifle Association" den individuellen Waffenbesitz trotz regelmässig wiederkehrender Gewaltexzesse nahezu als Menschenrecht stilisiert, ist mir kein Fall bekannt, in dem ein Schweizer Soldat sein in der Wohnung aufbewahrtes Armeegewehr zu gesetzwidrigen Handlungen gebraucht hätte.

30. Allerdings sollte man sich keine Illusionen darüber machen, dass der Weg zu einem miles protector sehr weit und die strukturellen Unterschiede von Polizei und Militär sehr gross sind. Der amerikanische Militärsoziologe Morris Janowitz hat gelegentlich von der Aufgabe einer "Konstabulisierung der Streitkräfte" gesprochen; ich halte es für denkbar, dass es hier ein Kontinuum zur "sozialen Verteidigung" geben kann, wie sie von den grünen Parteien und den Pazifisten propagiert wurde (und weiterhin gefordert wird?). Doch muss man sehen, dass das Militär auf absehbare Zeit für "robuste" Interventionen mit starken Ressourcen geplant wird, strategisch operiert, hierarchisch geführt ist und letztlich mit einer Freund-Feind-Unterscheidung legitimiert wird, während die Polizei relativ gewaltarm, dezentral und taktisch diffus agieren können muss, flachere Hierarchien und stärkere individuelle Verantwortlichkeiten betont und vor allem in Konflikten nicht als Partei, sondern als Schiedsrichter fungiert. Freilich - UN-Friedenstruppen weisen schon heute ein Profil auf, welches zwischen beiden Typen eine Zwischenstellung einnimmt. Genau diese wird in einer protektoratsähnlichen Ordnung des Kosovo auf eine wichtige Probe gestellt werden. Von grösster Bedeutung wird sein, ob und wie es den UN künftig gelingen wird, in der Folge einer Krisen- oder Konfliktintervention rechtsstaatliche Polizei- und Justizstrukturen aufzubauen. Für den Kosovo ist eine etwa 3000 Mann starke auswärtige "United Nations Police Group" vorgesehen, zu der auch geschulte Ermittler gehören. Gleichzeitig ist es unvermeidlich, bei Polizei und Justiz auch auf autochthone Kräfte zurückzugreifen. Nicht nur Deutschen dürfte klar sein, dass es dabei um äusserst heikle Personalentscheidungen geht.

31. Abschnitt "Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung" (DBW 6), München 1992, 134.

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Autor

Dr. Wolfgang Lienemann (Jahrgang 1944) ist seit 1992 Professor für Ethik im Institut für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bern.

Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit sind u.a. Grundlagenfragen der theologischen und philosophischen Ethik, Fragen von ökumenischer Ethik und Ekklesiologie, Politische Ethik mit dem Schwerpunkt Theologie und Friedensforschung. In diesem Zusammenhang entstand die Publikation Gewalt und Gewaltverzicht. Studien zur abendländischen Vorgeschichte der gegenwärtigen Wahrnehmung von Gewalt, München 1982. Lienemann ist Mitherausgeber der Zeitschrift Gesellschaft und Ethik und des Schweizer Jahrbuches für Kirchenrecht.

Aufgewachsen in Niedersachsen, studierte Lienemann in Heidelberg und Göttingen Evangelische Theologie und Philosophie und arbeitete nach seinem Studium und Vikariat (Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannover) als wissenschaftlicher Mitarbeiter viele Jahre in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.